Wortgeschichte
Prekariat und die Sozialreformen der 2000er Jahre
Die Kollektivbezeichnung Prekariat steht für eine Gruppe von Personen in häufig wechselnden, überwiegend schlecht bezahlten und oft auch durch Scheinselbständigkeit gekennzeichneten Beschäftigungsverhältnissen (trotz hoher Qualifikation)
. In dieser Bedeutung tritt das Wort seit Mitte der 2000er Jahre auf (vgl. 2004, 2006a, 2006d, 2006b). Gelegentlich wird es auch verstärkt durch das Attribut abgehängt (z. B. 2006f, 2008, s. auch Abgehängter)WGd. Es gibt zwar frühere Bezeugungen, etwa mit Belegen von 1955 und 1985; dabei handelt es sich jedoch um seltene historische Fachtermini zur Beschreibung bestimmter Formen spätantiker bzw. frühmittelalterlicher Rechtsverhältnisse. Eingang in die Allgemeinsprache hat diese Verwendung des Wortes nicht gefunden.
Für das Aufkommen und die rasche Verbreitung von Prekariat ab 2005 ist eine Reihe von außer- und innersprachlichen Faktoren zu nennen. Zum einen nimmt das Problem der Arbeitslosigkeit, die Diskussion um entsprechende Sozial- und Arbeitsmarktreformen sowie die grundsätzliche Frage der sozialen Gerechtigkeit einen hohen Stellenwert im öffentlichen Bewusstsein dieser Zeit ein. Das zeigt sich besonders an den öffentlichen Debatten und Protesten anlässlich der 2005 erfolgten Einführung von Hartz IV
, d. h. der Zusammenfassung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe zu einem neuen Arbeitslosengeld II
. Die rasche Verbreitung von Prekariat steht mit diesen Entwicklungen und den sie begleitenden Diskussionen in einem unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang: In den DWDS-Zeitungskorpora steigt die absolute Zahl von 4 Treffern im Jahr 2005 auf 200 Treffer für 2006 an; danach folgen bis einschließlich 2008 jeweils dreistellige Trefferzahlen (s. Abb. 1).
Abb. 1: Wortverlaufskurve „Prekariat“ (Zeitungskorpora)
DWDS (dwds.de) | Bildzitat (§ 51 UrhG)
Das Aufkommen des Wortes ist aber wohl auch in den umfassenderen Zusammenhang einer grundlegenden Umwälzung der Arbeitswelt von dem klassischen Arbeitsverhältnissen hin zu einer vor allem durch Digitalisierung und Flexibilisierung geprägten sog. New Economy. Prekariat erscheint daher auch im Kontext mit Ausdrücken wie digitale Bohème oder Generation Praktikum (2006e, s. auch GenerationWGd).1)
Die Tatsache, dass sich Prekariat so rasch ausbreiten konnte, ist sicher auch darauf zurückzuführen, dass das im Wort enthaltene Adjektiv prekärWGd schon seit mindestens einem Jahrzehnt etabliert war. Die neue Wortbildung verfügt damit über eine solide Motivationsbasis und ist entsprechend leicht in ihre Bestandteile aufzulösen.
Wertungen
Prekariat enthält, wie schon prekärWGd, eine negative Bedeutungskomponente. Negativ beurteilt werden dabei indes nicht die Betroffenen, sondern die Verhältnisse, in denen sie leben. Insofern enthält das Wort eine deontische Bedeutungskomponente, d. h. den impliziten Appell, dass dies nicht sein sollte und zu ändern ist. Dass zuerst vor allem Gewerkschaften und politisch als links einzuordnende Gruppierungen als sprachliche Akteure auftreten, ist vor diesem Hintergrund plausibel (2005, 2006f).
Allerdings ist in Ansätzen auch eine Bedeutungsverschlechterung zu registrieren. Diese liegt hier vor, wenn Prekariat eben doch weniger auf die sozialen Verhältnisse als vielmehr auf die in solchen Verhältnissen lebenden Personen bezogen und diesen ein Mangel an Bildung, Geschmack, Wohlstand oder ökologischem Verhalten unterstellt wird (vgl. 2006g, 2013). Dieser Gebrauch zeichnet sich durch eine Nähe zur Mündlichkeit aus und ist häufig in der Internet-Kommunikation zu finden. Bemerkenswert ist, dass diese Bedeutungsverschlechterung schon relativ früh nach dem Aufkommen des neuen Wortes ab 2006 einsetzt.
Eine Wortkreuzung und ihre Implikationen
Prekariat ist, morphologisch gesehen, als Wortkreuzung von prekärWGd und ProletariatWGd zu beschreiben. Im Hinblick auf die Semantik stellt diese Bildung über das Letztelement -ariat einerseits eine Kontinuität zwischen dem Proletariat und neuen Formen sozialer Hierarchisierung her, andererseits hebt das Erstelement Prek- die Unterschiede hervor: Es handelt sich somit gerade nicht um die klassische Industriearbeiterschaft, sondern um andere Beschäftigungsformen und auch andere soziale Gruppen, die in den entsprechenden Verhältnissen leben – im Gegensatz zum herkömmlicherweise männlichen Industriearbeiters sind dies vor allem auch Frauen.
Der Anschluss an das seit dem 19. Jahrhundert geläufige Wort Proletariat hat freilich auch noch andere Implikationen: Das Proletariat wird typischerweise als Erscheinung des klassischen Industriezeitalters, d. h. des 19. und teilweise auch des 20. Jahrhunderts, wahrgenommen. Im Selbstverständnis der sog. Sozialen Marktwirtschaft der Nachkriegszeit ist die stark hierarchisierte Klassengesellschaft des Kapitalismus überwunden: Ein Proletariat im eigentlichen Wortsinn gibt es nicht mehr. Wenn mit Prekariat eine gegenwärtige soziale Erscheinung benannt wird, die Wortkreuzung aber gleichzeitig einen deutlichen Bezug zum älteren Wort Proletariat herstellt, so ist bereits daraus eine implizite Aussage abzuleiten: Das Prekariat ist das neue Proletariat.
Sprachübergreifende Perspektiven
Die Wortgeschichte von Prekariat ist auch in einem sprachenübergreifenden Kontext zu sehen. Hier ist in erster Linie auf das französische précariat hinzuweisen, das mindestens seit der Zeit um 1980 belegt ist (vgl. 1981). Dabei handelt es sich um ein Schlagwort, das offensichtlich durch die französische Linke geprägt wurde. Es enthält dementsprechend eine deutlich negative Wertung sowie ein deontisches Moment, da die Herausbildung eines Prekariats als eine sozialpolitisch zu bekämpfende gesellschaftliche Entwicklung dargestellt wird.
Weitere Entsprechungen liegen übrigens sowohl mit englisch precariat bzw. älterem precarity als auch z. B. mit italienisch precariato vor (vgl. GDLI XIV, 35). Da die Bezeugungen in den genannten Sprachen jeweils älter sind, dürfte das deutsche Wort sich hier an entsprechende Vorbilder angelehnt haben. Einflüsse des Italienischen – womöglich über ein ins Deutsche übersetztes Werk des Soziologen Sergio Bologna (Bologna 2006, vgl. 2006c) – sind nicht auszuschließen. Als älteste Quelle für das Wort in den europäischen Sprachen ist jedoch, nach dem zitierten Beleg von 1981 zu schließen, vermutlich das Französische anzusehen. In jedem Fall heißt dies, dass es sich bei Prekariat nicht um eine genuin deutsche Wortbildung, sondern um ein Lehnwort handelt.
Anmerkungen
1) Zu Generation Praktikum vgl. auch Krüger 2017.
Literatur
Bologna 2006 Bologna, Sergio: Die Zerstörung der Mittelschichten. Thesen zur Neuen Selbständigkeit. Graz, Wien 2006.
GDLI Battaglia, Salvatore: Grande dizionario della lingua italiana. Vol. 1–21. Turin 1971–2002. (gdli.it)
Krüger 2017 Krüger, Birte: Generation Praktikum. In: Jochen A. Bär/Jana Tereick (Hrsg.): Von „Szene“ bis „postfaktisch“. Die „Wörter des Jahres“ der Gesellschaft für deutsche Sprache 1977 bis 2016. Hildesheim u. a. 2017, S. 145–146.
3OED Oxford English Dictionary. The Definite Record of the English Language. Kontinuierlich erweiterte digitale Ausgabe auf der Grundlage von: The Oxford English Dictionary. Second Edition, prepared by J. A. Simpson and E. S. C. Weiner, Oxford 1989, Bd. 1–20. (oed.com)
Weitere wortgeschichtliche Literatur zu Prekariat.