Wortgeschichte
Glückspilz als sozialer Aufsteiger
Glückspilz ist seit den 1770er Jahren bezeugt (1772a, 1772b). Es bedeutete zunächst Person, die unter günstigen Bedingungen schnell zu Reichtum gekommen ist
. Damit gehört Glückspilz in das Wortfeld der Bezeichnungen für soziale Aufsteiger, das sich ab Ende des 18. Jahrhunderts entfaltet. Zu diesem Feld gehören EmporkömmlingWGd, ParvenüWGd oder Neureicher. Der Ausdruck Glückspilz ist offenbar vom Bild eines bei günstigen Bedingungen rasch aus dem Nichts emporschießenden Pilzes motiviert. Dass diese Motivation im Sprachbewusstsein noch längere Zeit präsent war, zeigen Verbindungen mit Verben wie aufschießen oder emporschießen (1835a, 1871; vgl. auch die Belege 1883a und 1917).
Im 19. Jahrhundert bringt Glückspilz überwiegend negative Bedeutungsaspekte zum Ausdruck: Eine so bezeichnete Person ist zwar reich, verfügt aber weder über Geschmack noch Bildung (1830, 1835b, 1863a, 1865) und ist dafür umso mehr von sich eingenommen (1857, 1870a, 1871). Glückspilze werden in einer Reihe mit Börsenspekulanten (1844), Geldprotzen, Glücksrittern, Speichelleckern, Erbschleichern, Giftmischern und anderem vornehmen und niedrigen Lumpenvolk genannt (1863b).
Bedeutungsverbesserung
Für das letzte Drittel des 19. Jahrhunderts sind auch Belege für das Wort greifbar, die im Unterschied zu den älteren Bezeugungen keine negative Bewertung des Gemeinten erkennen lassen (1870b, 1877, 1884, 1883b). Dass keine abwertende Bedeutungskomponente mehr vorliegt, zeigt sich daran, dass das Wort auch in der direkten Anrede an eine Person verwendet werden kann, die dann nicht mit einer Beleidigung oder Herabsetzung verbunden ist, sondern offenbar eher neidvoll-lobend aufgefasst wird (1883b, 1884, 1897, 1899). Gute Indizien dafür, dass keine negative Wertung vorliegt, bietet auch die Selbstbeschreibung mir Glückspilz (1888) sowie die Verbindung du (bist ein) Glückspilz bzw. Sie Glückspilz (1898, 1908, 1950). Das Wort hat somit innerhalb einer vergleichsweise kurzen Zeitspanne seine pejorative Ausgangsbedeutung abgelegt und die neue Bedeutung Person, die Glück hat
angenommen. Dabei schwankt die Semantik leicht zwischen Person, die immer Glück hat, vom Glück begünstigt ist
auf der einen und Person, die in einem Einzelfall (überraschend) Glück hat
auf der anderen Seite (vgl. auch 1DWB 4,I,5, 385 und Belege wie 2003 und 2006).
Im Zuge dieser Bedeutungsverbesserung hat sich Glückspilz zu einem Synonym des älteren Glückskind entwickelt, das bereits seit dem 16. Jahrhundert bezeugt ist (s. 1DWB 4,I,5, 377). Damit ist es nun auch Antonym zu Pechvogel (1905, 2005). Festzuhalten ist hier auch, dass sich mit Vollzug des Bedeutungswandels, der von einer zunächst negativen zu einer neutralen bzw. positiven Perspektivierung führt, das Verhältnis von Motivationsbedeutung und Wortbedeutung ändert. Glück ist grundsätzlich ein positiver Ausdruck und steht als solcher innerhalb des Kompositums Glückspilz in einem Spannungsverhältnis zur älteren pejorativen Gesamtbedeutung des Wortes. Mit der Bedeutungsverbesserung von Glückspilz ist dieses Spannungsverhältnis aufgehoben.
Lehnübertragung aus dem Englischen
Da der Erstbeleg von 1772b einer Übersetzung aus dem Englischen entstammt, ist damit zu rechnen, dass es sich um eine – wenn auch recht freie – Lehnübertragung zu englisch mushroom handelt. Dieses Wort, dessen Grundbedeutung Pilz
ist, wird im Englischen seit dem Ende des 16. Jahrhunderts auch als pejorative Bezeichnung für soziale Aufsteiger genutzt (im Beleg als mushroom of opulence; zur Frage der Entlehnung vgl. 1DWB 4,I,5, 384f. und 3OED unter mushroom 2.a und 2.b). Hinzuweisen ist allerdings darauf, dass der mit Glückspilz vergleichbare Ausdruck Glücksschwamm (zu Schwamm Pilz
) bereits um 1760 belegt ist, ohne dass hier eine englische Vorlage erkennbar wäre (1DWB 4,I,5, 396). Ein Lehneinfluss des Englischen ist somit nicht zwingend anzunehmen.
Literatur
1DWB Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm. Bd. 1–16. Leipzig 1854–1961. Quellenverzeichnis Leipzig 1971. (woerterbuchnetz.de)
15Kluge Kluge, Friedrich: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. 15. Aufl., völlig neubearbeitete von Alfred Götze. Berlin 1951.
3OED Oxford English Dictionary. The Definite Record of the English Language. Kontinuierlich erweiterte digitale Ausgabe auf der Grundlage von: The Oxford English Dictionary. Second Edition, prepared by J. A. Simpson and E. S. C. Weiner, Oxford 1989, Bd. 1–20. (oed.com)
10Paul Paul, Hermann: Deutsches Wörterbuch. Bedeutungsgeschichte und Aufbau unseres Wortschatzes. 10., überarbeitete u. erweiterte Aufl. von Helmut Henne, Heidrun Kämper und Georg Objartel. Tübingen 2002.
Pfeifer Pfeifer, Wolfgang u. a.: Etymologisches Wörterbuch des Deutschen (1993), digitalisierte und von Wolfgang Pfeifer überarbeitete Version im Digitalen Wörterbuch der deutschen Sprache. (dwds.de)
Belegauswahl
Smollett, Tobias George: Humphrey Klinkers Reisen. Leipzig 1772, S. 66. (books.google.de)Jeder Glückspilz, wen er sich nach der Mode hat ausstaffiren lassen, zeigt sich zu Bath, als dem wahren Orte, wo er bemerkt werden wird.
Smollett, Tobias George: Humphrey Klinkers Reisen. Leipzig 1772, S. 154. (books.google.de)Wir haben itzt hier einen solchen Glückspilz, der seinem Koche wöchentlich siebenzig Guineen, für eine Mahlzeit täglich, bezahlt.
Pückler-Muskau, Hermann von: Briefe eines Verstorbenen. Bd. 1. München 1830, S. 136. (deutschestextarchiv.de)[…]Lächerlich und verdrießlich war es zugleich, als ich fand, daß der Kern der Spielerei nur ein kleines ſich durch nichts auszeichnendes Haus war, das übrige aber bloß verſchiedene, auf den Berg und Felſenabhängen errichtete Mauern, die bald Thürme, bald Dächer, bald Zinnen von großen Dimenſionen, halb im Walde verſteckt, nachahmten, von nahen aber nur dazu dienten, eine Menge Frucht- und Küchengärten einzuſchließen. Ein Glückspilz, ein durch Zufall reich gewordener Shop Keeper, hatte dieſe harmloſe Raubveſte, wie man mir ſagte, in zwei Jahren erbaut; eine wahre Satyre auf den herrſchenden Geſchmack!
Gutzkow, Karl: Öffentliche Charaktere. Bd. 1. Hamburg 1835, S. 116. (deutschestextarchiv.de)Als der Bellerophon […]— lebten wir zu den Zeiten der Apoſtel, wuͤrde man ſagen eine Wolke — den großen Kaiſer hinwegnahm, blieb die mannichfache Verzweigung und Verſchwaͤgerung ſeines Blutes zuruͤck, […]Namen von verſchiedenem Werthe, zum groͤßten Theil aber Gluͤckspilze, die neben den unausloͤſchlichen Fußſtapfen des Kaiſers aufgeſchoſſen waren, dieſe Fettflecken in den Hermelinen Europa’s, welche die Kugeln der heiligen Allianz nicht tilgen konnten.
Gutzkow, Karl: Öffentliche Charaktere. Bd. 1. Hamburg 1835, S. 106. (deutschestextarchiv.de)Mehemed Ali iſt weit von dieſer Humanitaͤt entfernt. Fuͤr dieſen Paſcha ſind die Wiſſenſchaften eine Gemaͤldeſammlung, welche ſich der Gluͤckspilz anſchaffen zu muͤſſen glaubt, ohne von ihr etwas zu verſtehen.
Die Grenzboten 3/1 (1844), S. 697. (deutschestextarchiv.de)Durch die Veränderung der Messe in Hautesse würden diese fürstlichen Häuser um eine Stufe tiefer kommen, was ihnen um so schmerzlicher fallen muß, als von unten auf die Reihen des Adels immer durch neue lettres de noblesse vermehrt werden. Das ist ein Schritt mehr zur Untergrabung des Adels-Jnstituts in der öffentlichen Meinung; von oben sagt der Stolz der Unmediatisirten sich von der Gemeinschaft des Titels los, von unten empfängt er die Gemeinschaft mercantilischer Glückspilze, Börsenspekulanten u. s. w.!
Die Grenzboten 16/2 (1857), S. 499. (deutschestextarchiv.de)Die, welche in der guten alten Zeit, wo es keine so starke Concurrenz gab, ihr Schäfchen geschoren haben, machen in der Regel den Eindruck ungebildeter hochmüthiger Glückspilze.
Die Gartenlaube 11 (1863), S. 201. [DWDS]Letztrer [Napoleon] so wie dessen Marschälle gelten jenen Leuten für Nichts als aus dem Pöbel hervorgestiegene Glückspilze und Emporkömmlinge, für avancirte Unteroffiziere, die von einem Cadettenhause und probemäßiger Dressur keine Ahnung haben.
Die Grenzboten 22/2 (1863), S. 502. (deutschestextarchiv.de)[…]Vor Armuth — so nämlich ist die ironisch aufzufassende Stelle NsM. II., 2. 49 ff. abzukürzen — begann er zugleich Verse zu machen, nicht um des Brotes willen, auch nicht um sich reiche Gönner zu erwerben; denn diese seine ersten lateinischen Poesien […](in griechischen hatte er sich schon in Athen versucht) waren Spottgedichte, die theils Gebrechen der Zeit, theils einzelne Personen geißelten. An Stoff dazu konnte es in diesen bösen Zeitläuften nicht fehlen. Die Bürgerkriege hatten die römische Welt tief verdorben. Sie wimmelte von Glückspilzen, Geldprotzen, Glücksrittern, Speichelleckern, Erbschleichern, Giftmischern und anderem vornehmen und niedrigen Lumpenvolk.
Die Grenzboten 24/1 (1865), S. 172. (deutschestextarchiv.de)Der Reichthum des Freigelassnen war schon zu Anfang der Kaiserzeit sprichwörtlich, ebenso aber auch seine Prahlerei, seine Prunksucht und sein widerwärtiger Dünkel. Die Spiegel, vor denen die Töchter dieser Glückspilze sich schmückten, kosteten mehr, als in der alten guten Zeit die Töchter verdienter Männer vom Staat zur Mitgift erhalten hatten.
Wander, Karl Friedrich Wilhelm (Hrsg.): Deutsches Sprichwörter-Lexikon. Bd. 2. Leipzig 1870, Sp. 1822. (deutschestextarchiv.de)Wider den Hochmuth der Glückspilze, der Emporkömmlinge, des frischen Backwerks unter dem adelichen wie bürgerlichen Ritterthum.
Raabe, Wilhelm: Ausgewählte Werke in sechs Bänden. Hrsg. von Peter Goldammer und Helmut Richter. Bd. 4. Berlin/Weimar 1964 [1870], S. 573.»Sackerment, das ist ja die junge Mamsell vom Hofe. Hehe, da muß ich der Krabbe doch meine Gratulation anbringen und ihr die Hohnörs vom Ort und der Gelegenheit machen. Verdammt, die Haare möchte sich ein ehrlicher Mensch ausraufen, wenn er nur von weitem an den Glückspilz, an den Dietrich denkt – Sackerment!«
François, Louise von: Die letzte Reckenburgerin. Bd. 1. Berlin 1871, S. 253. (deutschestextarchiv.de)Ja, Eine war unter ihnen, eine Einzige, die vom Teufel der Hoffart und Eitelkeit verblendet, ihrem von Gott geſetzten Kreiſe den Rücken gekehrt hatte, ſeitdem ſie über Nacht wie ein Glückspilz zur Braut und Nutznießerin eines hochfliegenden Patrons emporgeſchoſſen war.
François, Louise: Gesammelte Werke. Bd. 3. Leipzig 1918 [1877], S. 501.»Ein Glückspilz bist du, und ein Glückspilz bleibst du, alter Dezem! Wer sich mit dir einläßt, hat gewonnen Spiel!« sagte mit einem Luftsprung Peter Kurze, und nach des Glückspilzes Dafürhalten hatte Peter Kurze den Nagel wieder einmal auf den Kopf getroffen.
Schätz, Joseph: Lehr-, Lese- und Übungsbuch für sämtliche Klassen der Volksschule. 9. Aufl. Regensburg 1883, S. 202. [DWDS] (gei.de)Aus diesem Grunde ist auch ein über Nacht reich Gewordener als „Glückspilz“ mit einem Worte vollständig bezeichnet, weil eine ganze Reihe von Vorgängen sich an das Wachstum des Pilzes knüpfen.
Die Grenzboten 42/3 (1883), S. 532. (deutschestextarchiv.de)Sie sind doch eigentlich ein Glückspilz, sagte er. Wie können Sie so trübselig aussehen? Die reichste und schönste Braut auf zwanzig Meilen in: Umkreise zu besitzen und dabei den Kopf hängen zu lassen!
Zitelmann, Katharina: Was wird sie thun? In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Ludwig Laistner. Bd. XVII. München/Leipzig 1886 [1884], S. 83. (google.at)Du bist immer ein Glückspilz gewesen – du hast wahrhaftig das große Loos erwürfelt!
Marlitt, Eugenie: Gesammelte Romane und Novellen. Bd. 10. Leipzig 1900 [1888], S. 705.»Was denken Sie? Ich sollte meine Perle verkaufen, die mir Glückspilz unverdientermaßen in den Schoß gefallen ist? … Nein, eher gäbe ich das Etablissement Markus unter den Hammer!«
May, Karl: Satan und Ischariot. Bd. 3. Freiburg i. Br. 1911 [1897], S. 407.»Ich habe etwas geholt, was ich mitnehmen muß und doch nicht naß werden lassen darf. Ich muß es also auf meiner Insel befestigen, daß es trocken liegt.«
»Was ist es?«
»Einige Millionen Dollars.«
»Was! Etwa das geraubte Geld!«
»Ja.«
»Glückspilz, der Ihr seid! Wohl in einer Tasche?«
»Ja.«
»So befestigt sie ja recht sorgfältig, damit sie nicht verloren geht!«
Hartleben, Otto Erich: Ausgewählte Werke in drei Bänden. Bd. 3. Berlin 1913 [1898], S. 282.BENNO. Karnevale! Karnevale! – Du Glückspilz! Feierlich. Gratuliere! – Dem Gerechten schenkt’s der Herr im Schlafe.
Fontane, Theodor: Der Stechlin. Berlin 1899, S. 278. (deutschestextarchiv.de)Ach, Stechlin, Sie ſind ein Glückspilz, ein Wort, das Sie meiner erregten Stimmung zu gute halten müſſen. Ich werde wohl an der Majorsecke ſcheitern, wegen verſchiedener Mankos. Aber ſehn Sie, daß ich das einſehe, das könnte das Schickſal doch auch wieder mit mir verſöhnen.
Die Grenzboten 64/1 (1905), S. 182. (deutschestextarchiv.de)Nach einer weit verbreiteten Meinung gibt es Glückspilze und Pechvogel: den einen gelingt alles, auch wenn sie es noch so ungeschickt anfassen, während die andern jeden Entschluß noch so gründlich überlegen und noch so umsichtig ausführen können — es ist ihnen nicht möglich, den ersehnten Erfolg zu erringen. Der Streber sucht mit Vorliebe Glückspilze auf, und der Pechvogel wird von vielen gemieden, die vorwärts kommen wollen.
Verne, Jules: Die Jagd nach dem Meteore. Bekannte und unbekannte Welten. Wien u. a. 1909 [1908], S. 109.– Du Glückspilz! antwortete Zephyrin Xirdal.
Die Fackel 22 (1917) [2002], Nr. 445–453, S. 132. [DWDS]Der perfekte Sieghart soll nur einmal eine Enttäuschung erlebt haben, als er in jenem Walde, in dem die Glückspilze wachsen, an eine durch ihr Echo berühmte Stelle kam, den Ruf probierte: »Die Baronie!« und die Antwort bekam: »- nie!«
Horster, Hans-Ulrich: Ein Herz spielt falsch. Köln 1991 [1950], S. 211. [DWDS]Mann, Sie Glückspilz heiraten eine der reichsten Frauen und haben Sorgen?
Berliner Zeitung, 24. 10. 2003. [DWDS]Der unbekannte Glückspilz hat mit drei Euro Einsatz 1,05 Millionen Euro gewonnen, teilte die Deutsche Klassenlotterie gestern mit.
Berliner Zeitung, 26. 4. 2005. [DWDS]Deutschland ist über Nacht von einem Land der Glückspilze zu einem Haufen Pechvögel mutiert.
Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 30. 4. 2006. [DWDS]Der beim Publikum beliebte Moderator hat das Image eines sympathischen Gewinners, eines Glückspilzes.