Wortgeschichte
Arbeiterkind – Proletarierkind: Zwei Wörter des 19. Jahrhunderts
In etwa zeitgleich begegnen in der Mitte des 19. Jahrhundert mit Proletarierkind (1846) und Arbeiterkind (1848a) zwei neue Wörter, die starke semantische Überschneidungen aufweisen: Die Bedeutung von Proletarierkind kann mit Kind der Unterschicht, des Proletariats
angegeben werden (1846, 1852); Arbeiterkind hat zunächst überwiegend die Bedeutung Kind von Eltern, die der Arbeiterklasse angehören
(1848b, siehe hier auch den Titel des Werkes; 1898, 1931). Daneben treten im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert selten und im Kontext von Kinderarbeit auch Verwendungen in der Bedeutung einer Lohnarbeit nachgehendes Kind
(1887, 1888, 1906, 1907a). Die Grenzen zwischen den beiden Bedeutungen sind hier insofern nicht immer ganz einfach zu ziehen, als sie in den Wortverwendungen auch zusammenfallen können, also mit dem Wort ein Kind von Arbeitern bezeichnet werden kann, das selbst bereits der Erwerbstätigkeit nachgehen muss.
Abb. 1: DWDS-Wortverlaufskurve zu Arbeiterkind und Akademikerkind
DWDS (dwds.de) | Bildzitat (§ 51 UrhG)
Im 19. und bis ins beginnende 20. Jahrhundert hinein sind beide Wörter in etwa gleich häufig bezeugt (vgl. Abb. 1 sowie die entsprechende Wortverlaufskurve des Google NGram Viewers). Beide Wörter werden dabei auch synonym verwendet (1907b, 1911). Gleichwohl fällt auf, dass sich die Kontexte, in denen die beiden Wörter begegnen, durchaus unterscheiden. Erwartbar wären vor dem Hintergrund der Wortbildung mit ProletarierWGd und Arbeiter, mithin zwei politischen Schlagwörtern der Arbeiterbewegung und des Marxismus, vielleicht vor allem Bezeugungen in diesen Kontexten. Proletarier, Anfang des 19. Jahrhunderts über das Französische prolétaire in der von den Saint-Simonisten geprägten politischen Bedeutung ins Deutsche entlehnt, ist in der Bedeutung besitzloser und abhängiger Lohnarbeiter
im deutschsprachigen Raum seit den 1830er Jahren ein Schlagwort in den Schriften der demokratisch-republikanischen Autoren sowie in Dokumenten der Arbeiterbewegung (vgl. Pfeifer unter ProletarierDWDS sowie ProletarierWGd). Arbeiter, im Deutschen als Bildung zu arbeiten in einer weiten Bedeutung mindestens seit dem 13. Jahrhundert bezeugt (vgl. 10Paul, 89), erhält im 19. Jahrhundert die nunmehr standesorientierte Bedeutung Angehöriger der Klasse der lohnabhängig tätigen Bevölkerung, insb. in der Industrie
(vgl. 2DWB 3, 199). Vor diesem Hintergrund mag es überraschen, dass die überwiegende Mehrheit der Quellen, in denen Arbeiterkind und Proletarierkind begegnen, nicht im engeren Sinn der Arbeiterbewegung bzw. dem Marxismus zuzuordnen sind (daneben allerdings auch Belege wie 1911). Bei Marx selbst begegnen Arbeiterkind und Proletarierkind beispielsweise in Das Kapital nur am Rande (1867b, 1867a).
Auffallend sind dahingegen die vielen medizinischen Quellen, in denen Arbeiterkind (nicht so sehr hingegen Proletarierkind) in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verwendet werden (1854, 1868b, 1869). Man kann nur mutmaßen, dass in diesem Kontext mit dem Wort zugleich weitere für medizinische Kontexte relevante Informationen mitgeliefert werden, dass Arbeiterkind hier mithin auch Konnotationen etwa der schlechten Lebensumstände hat (1927), die für Krankheitsbilder und Behandlungskontexte von Bedeutung sein können. Daneben wird das Wort früh auch in Zusammenhang mit der Diskussion um die Schulbildung von Arbeiterkindern verwendet (1848b, 1862, 1868a, 1910) – ein Diskursstrang, der sich, unter veränderten Vorzeichen, bis in die Gegenwart ziehen wird (s. u.). Auch Proletarierkind begegnet in diesen Kontexten (1847, 1876). Daneben findet das Wort auch in literarischen Quellen häufiger Verwendung (1852, 1860, 1885).
Arbeiterkind – Akademikerkind: Bedeutungserweiterung und neuer Gegensatz
Bis in die 1920er Jahre hinein steigt die Bezeugungsfrequenz sowohl von Arbeiterkind als auch von Proletarierkind zunächst stetig an, bevor die Verwendungshäufigkeit ebenfalls bei beiden Wörtern rückläufig ist. Ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts tritt die bis dahin relativ vergleichbare wortgeschichtliche Entwicklung dann erkennbar auseinander, was am deutlichsten an einem signifikanten Anstieg der Bezeugungsfrequenz von Arbeiterkind bei gleichzeitig stagnierender bis weiter rückläufiger Verwendungshäufigkeit von Proletarierkind abzulesen ist (vgl. die entsprechende Wortverlaufskurve des Google NGram Viewers). Zugleich tritt mit Akademikerkind (1954) nun ein neues Antonym zu Arbeiterkind auf (1957).
Abb. 2: DWDS-Wortverlaufskurve zu Akademikerkind
DWDS (dwds.de) | Bildzitat (§ 51 UrhG)
Akademikerkind ist vereinzelt bereits in den 1920er Jahren bezeugt (1920, 1927), auch hier schon als Antonym zu Arbeiterkind oder Proletarierkind. Es scheint sich hier aber eher um Spontanbildungen als um ein etabliertes Wort zu handeln. In der Bedeutung Kind mit mindestens einem Elternteil, das studiert hat
(1978) ist Akademikerkind ab den 1950er Jahren gelegentlich, in den 1960er und 1970er Jahren häufiger belegt, bevor die Verwendungshäufigkeit zunächst wieder rückläufig ist (vgl. Abb. 2 sowie die entsprechende Wortverlaufskurve des Google NGram Viewers). Im bundesrepublikanischen Diskurs sind es vornehmlich Diskussionen um Bildungschancen und Bildungsgerechtigkeit, in denen das Wort begegnet, wobei sich der Fokus gegenüber den Diskussionen des 19. Jahrhunderts um die Bildung von Arbeiterkindern nunmehr auf weiterführende Schulen und Hochschulen verlagert (1965, 1975).
In den 2000er Jahren steigt die Bezeugungsfrequenz von Akademikerkind dann deutlich an, in den 2010er Jahren ist sie wieder leicht rückläufig. Vermutlich hängt dies unter anderem mit dem sogenannten PISA-Schock und der danach neuerlich geführten Diskussion um die Bildungs- und Chancengleichheit in Deutschland zusammen (vgl. etwa den Beleg 2003). Gerade in dieser Debatte zeigt sich weiterhin deutlich, dass Akademikerkind und Arbeiterkind nunmehr als Gegensätze verwendet werden (2000, 2012) und Arbeiterkind derzeit die weiter gefasste Bedeutung Kind, dessen Eltern nicht studiert haben
hat. Damit ist weniger wie noch im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert die Form der Erwerbstätigkeit, sondern vielmehr der Bildungsgrad der Eltern bedeutungsbestimmend. Zugleich hat Arbeiterkind keine die (ärmlichen) Lebensverhältnisse von Arbeitern betreffenden Konnotationen mehr.
Literatur
2DWB Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm. Neubearbeitung. Hrsg. von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften (vormals Deutsche Akademie der Wissenschaften) und der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen. Bd. 1–9. Stuttgart 1983–2018. (woerterbuchnetz.de)
10Paul Paul, Hermann: Deutsches Wörterbuch. Bedeutungsgeschichte und Aufbau unseres Wortschatzes. 10., überarbeitete u. erweiterte Aufl. von Helmut Henne, Heidrun Kämper und Georg Objartel. Tübingen 2002.
Pfeifer Pfeifer, Wolfgang u. a.: Etymologisches Wörterbuch des Deutschen (1993), digitalisierte und von Wolfgang Pfeifer überarbeitete Version im Digitalen Wörterbuch der deutschen Sprache. (dwds.de)
Weitere wortgeschichtliche Literatur zu Arbeiterkind, Proletarierkind, Akademikerkind.