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Arbeiterkind · Proletarierkind Akademikerkind

Politik & Gesellschaft

Kurz gefasst

Arbeiterkind, das im 19. Jahrhundert Kind von Eltern aus der Arbeiterklasse sowie seltener Lohnarbeit nachgehendes Kind bedeutet, und Proletarierkind in der Bedeutung Kind, das der Unterschicht angehört, werden Mitte des Jahrhunderts gebildet. Zunächst auch synonym verwendet, begegnen sie in diesem Zeitraum gleichwohl auch in sehr unterschiedlichen Kontexten. Bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts mit recht ähnlicher wortgeschichtlicher Entwicklung, treten die beiden Wörter danach auseinander: Während die Verwendungsfrequenz von Proletarierkind stagniert und gar rückläufig ist, begegnet Arbeiterkind, nunmehr mit der Bedeutung Kind, dessen Eltern nicht studiert haben und als Gegensatz zu Akademikerkind, zunehmend in Diskussionen um Bildungs- und Chancengleichheit.

Wortgeschichte

ArbeiterkindProletarierkind: Zwei Wörter des 19. Jahrhunderts

In etwa zeitgleich begegnen in der Mitte des 19. Jahrhundert mit Proletarierkind (1846) und Arbeiterkind (1848a) zwei neue Wörter, die starke semantische Überschneidungen aufweisen: Die Bedeutung von Proletarierkind kann mit Kind der Unterschicht, des Proletariats angegeben werden (1846, 1852); Arbeiterkind hat zunächst überwiegend die Bedeutung Kind von Eltern, die der Arbeiterklasse angehören (1848b, siehe hier auch den Titel des Werkes; 1898, 1931). Daneben treten im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert selten und im Kontext von Kinderarbeit auch Verwendungen in der Bedeutung einer Lohnarbeit nachgehendes Kind (1887, 1888, 1906, 1907a). Die Grenzen zwischen den beiden Bedeutungen sind hier insofern nicht immer ganz einfach zu ziehen, als sie in den Wortverwendungen auch zusammenfallen können, also mit dem Wort ein Kind von Arbeitern bezeichnet werden kann, das selbst bereits der Erwerbstätigkeit nachgehen muss.

Die Abbildung zeigt die Wortverlaufskurve des DWDS zu Arbeiterkind und Akademikerkind.

Abb. 1: DWDS-Wortverlaufskurve zu Arbeiterkind und Akademikerkind

DWDS (dwds.de) | Bildzitat (§ 51 UrhG)

Im 19. und bis ins beginnende 20. Jahrhundert hinein sind beide Wörter in etwa gleich häufig bezeugt (vgl. Abb. 1 sowie die entsprechende Wortverlaufskurve des Google NGram Viewers). Beide Wörter werden dabei auch synonym verwendet (1907b, 1911). Gleichwohl fällt auf, dass sich die Kontexte, in denen die beiden Wörter begegnen, durchaus unterscheiden. Erwartbar wären vor dem Hintergrund der Wortbildung mit ProletarierWGd und Arbeiter, mithin zwei politischen Schlagwörtern der Arbeiterbewegung und des Marxismus, vielleicht vor allem Bezeugungen in diesen Kontexten. Proletarier, Anfang des 19. Jahrhunderts über das Französische prolétaire in der von den Saint-Simonisten geprägten politischen Bedeutung ins Deutsche entlehnt, ist in der Bedeutung besitzloser und abhängiger Lohnarbeiter im deutschsprachigen Raum seit den 1830er Jahren ein Schlagwort in den Schriften der demokratisch-republikanischen Autoren sowie in Dokumenten der Arbeiterbewegung (vgl. Pfeifer unter ProletarierDWDS sowie ProletarierWGd). Arbeiter, im Deutschen als Bildung zu arbeiten in einer weiten Bedeutung mindestens seit dem 13. Jahrhundert bezeugt (vgl. 10Paul, 89), erhält im 19. Jahrhundert die nunmehr standesorientierte Bedeutung Angehöriger der Klasse der lohnabhängig tätigen Bevölkerung, insb. in der Industrie (vgl. 2DWB 3, 199). Vor diesem Hintergrund mag es überraschen, dass die überwiegende Mehrheit der Quellen, in denen Arbeiterkind und Proletarierkind begegnen, nicht im engeren Sinn der Arbeiterbewegung bzw. dem Marxismus zuzuordnen sind (daneben allerdings auch Belege wie 1911). Bei Marx selbst begegnen Arbeiterkind und Proletarierkind beispielsweise in Das Kapital nur am Rande (1867b, 1867a).

Auffallend sind dahingegen die vielen medizinischen Quellen, in denen Arbeiterkind (nicht so sehr hingegen Proletarierkind) in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verwendet werden (1854, 1868b, 1869). Man kann nur mutmaßen, dass in diesem Kontext mit dem Wort zugleich weitere für medizinische Kontexte relevante Informationen mitgeliefert werden, dass Arbeiterkind hier mithin auch Konnotationen etwa der schlechten Lebensumstände hat (1927), die für Krankheitsbilder und Behandlungskontexte von Bedeutung sein können. Daneben wird das Wort früh auch in Zusammenhang mit der Diskussion um die Schulbildung von Arbeiterkindern verwendet (1848b, 1862, 1868a, 1910) – ein Diskursstrang, der sich, unter veränderten Vorzeichen, bis in die Gegenwart ziehen wird (s. u.). Auch Proletarierkind begegnet in diesen Kontexten (1847, 1876). Daneben findet das Wort auch in literarischen Quellen häufiger Verwendung (1852, 1860, 1885).

Arbeiterkind Akademikerkind: Bedeutungserweiterung und neuer Gegensatz

Bis in die 1920er Jahre hinein steigt die Bezeugungsfrequenz sowohl von Arbeiterkind als auch von Proletarierkind zunächst stetig an, bevor die Verwendungshäufigkeit ebenfalls bei beiden Wörtern rückläufig ist. Ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts tritt die bis dahin relativ vergleichbare wortgeschichtliche Entwicklung dann erkennbar auseinander, was am deutlichsten an einem signifikanten Anstieg der Bezeugungsfrequenz von Arbeiterkind bei gleichzeitig stagnierender bis weiter rückläufiger Verwendungshäufigkeit von Proletarierkind abzulesen ist (vgl. die entsprechende Wortverlaufskurve des Google NGram Viewers). Zugleich tritt mit Akademikerkind (1954) nun ein neues Antonym zu Arbeiterkind auf (1957).

Die Abbildung zeigt die Wortverlaufskurve des DWDS zu Akademikerkind.

Abb. 2: DWDS-Wortverlaufskurve zu Akademikerkind

DWDS (dwds.de) | Bildzitat (§ 51 UrhG)

Akademikerkind ist vereinzelt bereits in den 1920er Jahren bezeugt (1920, 1927), auch hier schon als Antonym zu Arbeiterkind oder Proletarierkind. Es scheint sich hier aber eher um Spontanbildungen als um ein etabliertes Wort zu handeln. In der Bedeutung Kind mit mindestens einem Elternteil, das studiert hat (1978) ist Akademikerkind ab den 1950er Jahren gelegentlich, in den 1960er und 1970er Jahren häufiger belegt, bevor die Verwendungshäufigkeit zunächst wieder rückläufig ist (vgl. Abb. 2 sowie die entsprechende Wortverlaufskurve des Google NGram Viewers). Im bundesrepublikanischen Diskurs sind es vornehmlich Diskussionen um Bildungschancen und Bildungsgerechtigkeit, in denen das Wort begegnet, wobei sich der Fokus gegenüber den Diskussionen des 19. Jahrhunderts um die Bildung von Arbeiterkindern nunmehr auf weiterführende Schulen und Hochschulen verlagert (1965, 1975).

In den 2000er Jahren steigt die Bezeugungsfrequenz von Akademikerkind dann deutlich an, in den 2010er Jahren ist sie wieder leicht rückläufig. Vermutlich hängt dies unter anderem mit dem sogenannten PISA-Schock und der danach neuerlich geführten Diskussion um die Bildungs- und Chancengleichheit in Deutschland zusammen (vgl. etwa den Beleg 2003). Gerade in dieser Debatte zeigt sich weiterhin deutlich, dass Akademikerkind und Arbeiterkind nunmehr als Gegensätze verwendet werden (2000, 2012) und Arbeiterkind derzeit die weiter gefasste Bedeutung Kind, dessen Eltern nicht studiert haben hat. Damit ist weniger wie noch im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert die Form der Erwerbstätigkeit, sondern vielmehr der Bildungsgrad der Eltern bedeutungsbestimmend. Zugleich hat Arbeiterkind keine die (ärmlichen) Lebensverhältnisse von Arbeitern betreffenden Konnotationen mehr.

Literatur

2DWB Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm. Neubearbeitung. Hrsg. von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften (vormals Deutsche Akademie der Wissenschaften) und der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen. Bd. 1–9. Stuttgart 1983–2018. (woerterbuchnetz.de)

10Paul Paul, Hermann: Deutsches Wörterbuch. Bedeutungsgeschichte und Aufbau unseres Wortschatzes. 10., überarbeitete u. erweiterte Aufl. von Helmut Henne, Heidrun Kämper und Georg Objartel. Tübingen 2002.

Pfeifer Pfeifer, Wolfgang u. a.: Etymologisches Wörterbuch des Deutschen (1993), digitalisierte und von Wolfgang Pfeifer überarbeitete Version im Digitalen Wörterbuch der deutschen Sprache. (dwds.de)

Belegauswahl

Wir haben die Stufenjahre dieses armen Proletarierkindes geschildert, – wir wollen ihnen die Stufenjahre einer Patrizierstochter entgegenstellen, welche zu derselben Stufe – aber auf anderem Wege – gefallen, wie die Tochter der Fabrik zu ihr gestiegen ist.

Groß-Hoffinger, Anton Johann: Das galante Wien. Sittengemälde. Bd. 2. Leipzig 1846, S. 19. (books.google.de)

Der Lehrer […], welchem vielleicht noch gar nicht das Bewußtsein aufgegangen ist, daß jene grimmigen, blutigen Erzählungen zur Veredlung der Kinder gar nichts beitragen können, wundert sich, daß trotz der frommen Erzählung vom Sündenfalle, dem Brudermorde, der Sündfluth, dem heiligen Manne, der seinen Sohn schlachten will, dem Gott wohlgefälligen Manne, der seinen blinden Vater betrügt etc. das Proletarierkind lügt, nascht, schimpft, flucht. Er greift zum Stocke. Das Proletarierkind hat aber leider, als Bettelkind mit Härte aus fremden Häusern verstoßen, als Spielgenosse der Kinder besserer Familien, häufig mit Zurücksetzung behandelt, die Erfahrung gemacht, daß es ein verachtetes Geschöpf in der Welt ist.

N. N.: Der Pauperismus und die Volksschule. Ein ernstes Wort über eine der wichtigsten Fragen unserer Zeit. Leipzig 1847, S. 21. (books.google.de)

[…]Ist zu solchen Einrichtungen von oben herab die Hand geboten, dann muß der Fabrikarbeiter und der kleine Handwerker seine Kinder nicht alle zu seinem Fache erziehen, sondern jede Gelegenheit ergreifen, um sie dem Landbau zu widmen; denn in dem Verhältniß, wie sich die Kinder der Arbeiterfamilien vermehren, wächst die Arbeit nicht, und es müssen daher, wenn jedes Arbeiterkind wieder Arbeiter wird, Zeiten kommen, wo das Elend noch sehr viel größer ist als jetzt […]; das ist aber nicht naturgemäß, und die Zahl der Fabrik- und Handwerksarbeiter muß sich immer nur auf die geringste beschränken, die durchaus nöthig ist, weil dieselben eben nur Geld, und nicht Korn und Kartoffeln erwerben, daher sehr leicht in Noth gerathen können, und darum ist es eine so unendlich große Wohlthat, daß sich durch die Erfindung der Maschinen die Zahl dieser, nur Geld, und nicht Brodt erwerbenden Menschen vermindern kann.

N. N.: Der deutsche Arbeiter. Stimme aus einer Preuß. Provinz, als Beitrag zur Aufklärung und Verbesserung der Verhältnisse der Arbeiter in Deutschland. Berlin 1848, S. 26. (books.google.de)

Drittens, der Staat hebe auch des ärmsten Arbeiters Kind zu gleicher Befähigung des Geistes mit andern Staatsmitgliedern:

a. Durch unentgeltlichen Unterricht Aller in vorzüglichen Volkschulen,

b. durch eben solche Aufnahme des wahrhaft befähigten Kindes in die höheren und höchsten Bildungs-Anstalten,

c. durch allgemeine Gewerbeschulen,

d. durch eben solche Volks-Bibliotheken.

N. N.: Die soziale Frage im Vordergrunde! oder die drei Hauptforderungen der Arbeiter an den Staat: Arbeit für jeden Müßigen, Brod für jeden Invaliden, freier Unterricht für jedes Arbeiter-Kind, in ihrer Ausführbarkeit nachgewiesen von einem Tuchfabrikanten. Grünberg 1848, S. 20. (books.google.de)

„Er hat es mir einmal gesagt,“ antwortete Cäcilie, „er nannte sich auch ein Proletarierkind – einen Sohn des Volkes -“

Otto, Louise: Cäcilie Telville. Roman. Bd. 3. Leipzig 1852, S. 68. (books.google.de)

An diesem Tage aber fand ich in Möllendorf mehrere Personen, welche mehr oder weniger von Cholera-Symptomen ergriffen waren und zwar 1) den schon seit 8 Tagen an der Cholera heftig erkrankten Arbeiter B. […]; 5) das 2 1/2 jährige Arbeiterkind L., welches bloss an Erbrechen litt, aber mit Cholera-Kranken in Berührung gekommen war; […].

Allgemeine Medicinische Central-Zeitung 23, 1. 4. 1854, Nr. 26, Sp. 202. (books.google.de)

Alle Hoffnungen nun, die er an diese außergewöhnliche Prüfung setzen mochte, waren unendlich viel bescheidenerer Art, als ein Proletarierkind heutigen Schlages bei ähnlichen Veranlassungen hegen würde.

Brachvogel, A. E.: Benoni. Ein Roman. Bd. 1. Leipzig 1860, S. 32. (books.google.de)

Ein solches Arbeiterkind muß bis zum 12. Jahre eine öffentliche Schule besuchen.

Freihofer: Handarbeit. In: K. A. Schmid (Hrsg.): Encyklopädie des gesammten Erziehungs- und Unterrichtswesens. Band 3: Göthe – Kindsmädchen. Gotha 1862, S. 255–263, hier S. 258. (books.google.de)

Eine Fabrikantenkategorie sicherte sich diessmal, wie früher, besondere Seigneurialrechte auf Proletarierkinder. Es waren diess die Seidenfabrikanten.

Marx, Karl: Das Kapital. Kritik der politischen Oekonomie. Bd. 1. Buch I: Der Produktionsprocess des Kapitals. Hamburg 1867, S. 269. (deutschestextarchiv.de)

Das Luchsauge des Kapitals entdeckte, dass der Akt von 1844 fünfstündige Arbeit des Vormittags nicht ohne Pause von wenigstens 30 Minuten für Erfrischung erlaubt, aber nichts der Art für die Nachmittagsarbeit vorschreibt. Es verlangte und ertrotzte daher den Genuss, achtjährige Arbeiterkinder unausgesetzt von 2 bis halb 9 Uhr Abends nicht nur schanzen, sondern auch hungern zu lassen!

Marx, Karl: Das Kapital. Kritik der politischen Oekonomie. Bd. 1. Buch I: Der Produktionsprocess des Kapitals. Hamburg 1867, S. 263. (deutschestextarchiv.de)

Damit der Volksschullehrer dieser vorbereitenden Thätigkeit, welche nicht in seinem Berufe liegt, enthoben wird, werde ich mir zur Erschöpfung der in Rede steheden Angelegenheit erlauben den Antrag zu stellen, daß man Kleinkinderbewahr-Anstalten errichte, und daß hier das Arbeiterkind dasjenige lerne, was als Vorbereitung zum weiteren Unterricht nöthig ist. […] Das Bürgerkind soll aber nur vom 6. bis zum 7. Jahre in eine Vorbereitungsschule gesandt werden; denn es lernt in einem Jahre, was das Arbeiterkind erst in zwei Jahren bewirkt. Die Eltern aus dem Arbeiterstande werden wohl mit meinem Antrage einverstanden sein, da sie es gerne sehen, wenn die Kinder gut verwahrt sind.

Stenografisches Protokoll der in Troppau abgehaltenen Schlesischen Lehrerversammlung am 9. Juli 1868. Teschen 1868, S. 15. (books.google.de)

Anna Biakowsky, ein 4jähriges Arbeiterkind, wurde am 23. März 1867 auf die medizinisch-klinische Abtheilung des Allerheiligenhospitals dahier aufgenommen.

Memorabilien. Monatsblätter für praktische und wissenschaftliche Mittheilungen rationeller Ärzte 13 (1868), S. 242. (books.google.de)

Auguste Sp., ein 3 Jahre altes Arbeiterkind aus Waldenburg, wurde den 21. Juni 1866 der Klinik zugeführt. Man fand auf dem linken Auge die vordere Kammer kleiner, als auf dem rechten, die Linse klar bis auf eine Trübung am hinteren Pole, das Corp. vitrenm nach aussen und oben überfüllt, resp. verdrängt von einer weisslichen, in der Peripherie stellenweise flockigen Masse, die an ihrer Oberfläche Gefässe trug.

Berthold, Hermann: Ueber die pathologisch-anatomischen Veränderungen der Augen-Medien und -Häute bei intraoculären Tumoren. In: F. F. Arlt/F. C. Donders/A. von Graefe (Hrsg.): Archiv für Ophthalmologie 15. Abtheilung I. Berlin 1869, S. 159–183, hier S. 164. (books.google.de)

Indessen man beruft sich auf Gründe der Humanität, wenn man für das Proletarierkind dieselbe Schule wie für das des „Aristokraten“ fordert.

Schneider, Martin: Die Knaben-Mittelschulen, ihr Zweck und ihre Organisation. Cöthen 1876, S. 14. (google.de)

Am Arm das Körbchen mit den weißen Glöckchen,
Das blonde Haar zerweht vom Frühlingswind,
Lehnt bleich und zitternd im verschossnen Röckchen
Am Prunkpalast das Proletarierkind.

Holz, Arno: Frühling. (Frühling 1884). Originalbeitrag. In: Wilhelm Arent (Hrsg.): Moderne Dichter-Charaktere. Berlin 1885, S. 137–143, hier S. 140. (books.google.de)

Hörte ich doch, ein hochstehender deutscher Beamte habe vor nicht langer Zeit geäussert: „Was kann es für ein dreizehnjähriges Mädchen überhaupt Besseres geben als die Aufnahme in eine Fabrik! Zu Haus findet es höchstens einen trunkenen Vater und eine zerlumpte Mutter. Dort aber befindet es sich in den Fabrikräumen unter heilsamer Aufsicht und Disziplin und der Lohn, den es verdient, erhöht das Einkommen seiner Eltern“. Sehen wir von der eigentümlichen Vorstellung, dass ein Arbeiterkind normaler Weise zu Hause einen trunkenen Vater und eine zerlumpte Mutter vorfinden muss, ab, so hatte der betreffende Beamte vielleicht noch eine gewisse Entschuldigung für seine Auffassung.

Herkner, Heinrich: Die oberelsässische Baumwollindustrie und die deutsche Gewerbeordnung. Eine Erwiderung an meine Gegner. Strassburg 1887, S. 21. (books.google.de)

Für diese [zweite Klasse von Arbeiterfamilien, ASB] hätte das Verbot der Kinderarbeit die Bedeutung einer direkten Lohnverminderung; für die andere Arbeiterkategorie hat das Verbot nur die Bedeutung einer getäuschten Hoffnung auf Vermehrung des Einkommens; und hierauf war jede Familie Jahre lang vorher vorbereitet, so daß sie nicht etwa z. B. im Hinblick auf den Ertrag der Kinderarbeit Kredit aufnahm. Und genau so gut oder schlecht, wie das Arbeiterkind bis zum 10. Jahr seinen Tisch im elterlichen Hause gedeckt fand, genau so gut oder schlecht wird das Kind auch bis zum 13. Jahre zu Hause seine Hungerstillung zu erreichen vermögen.

Adler, Georg: Der internationale Schutz der Arbeiter. In: Georg Hirth/Max Seydel (Hrsg.): Annalen des Deutschen Reichs für Gesetzgebung, Verwaltung und Statistik. München/Leipzig 1888, S. 465–577, hier S. 527. (books.google.de)

Als sie mit 18 Jahren dem Fabrikbesitzer und späteren Kommerzienrat Georg Friedrich Heyl ihre Hand reichte, vereinte sie sich gleichzeitig mit ihm zu reger Fürsorge für das Wohl ihrer Fabrikarbeiter, welche ihren Ausdruck fand in der Pflege der Wöchnerinnen und Säuglinge, (siehe Säuglingspflege) und in der Errichtung eines Kindergartens für Arbeiterkinder.

Pataky, Sophie (Hrsg.): Lexikon deutscher Frauen der Feder. Eine Zusammenstellung der seit dem Jahre 1840 erschienenen Werke weiblicher Autoren, nebst Biographieen der lebenden und einem Verzeichnis der Pseudonyme. [I. Band. A–L.]. Berlin 1898, S. 350. (deutschestextarchiv.de)

Manche dieser Übelstände sind heute in den meisten Ländern durch die Gesetzgebung beseitigt worden. Aber „das Arbeiterkind“ ist noch immer nicht aus unserer Gegenwart verschwunden. Wurden doch vor einigen Jahren noch mehr als eine halbe Million (544000) gewerblich tätiger Kinder unter 14 Jahren in Deutschland allein ermittelt […].

Sombart, Werner: Das Proletariat. Bilder und Studien. Frankfurt a. M. 1906, S. 52. (books.google.de)

Die deutsche Gewerbenovelle verbietet die Fabrikarbeit von Kindern unter dreizehn Jahren, eine durchaus ungenügende Vorschrift. Seit 1877 dürfen in der Schweiz Kinder unter vierzehn Jahren in Fabriken nicht beschäftigt werden, in Oesterreich ist gleichfalls die Beschäftigung dieser Altersstufen erheblich eingeschränkt. Aber es reicht durchaus nicht aus, bloß die Großgewerbe an der Ausbeutung der Arbeiterkinder zu verhindern, dem Massenaufgebot kindlicher Arbeitskräfte begegnen wir gerade in dem Kleinbetrieb und in der Hausindustrie.

Kautsky, Karl/Schönlank, Bruno: Grundsätze und Forderungen der Sozialdemokratie. Erläuterungen zum Erfurter Programm. Berlin 1907, S. 59. (deutschestextarchiv.de)

Das Arbeiterkind kostet also die Gesellschaft für Bildungszwecke etwa 290, der Gymnasiast 2800, der Student aber (Universität und Gymnasium zusammen) 6—7000 Mark, also mehr als das zwanzigfache dessen, was für das Proletarierkind verausgabt wird.

Kautsky, Karl/Schönlank, Bruno: Grundsätze und Forderungen der Sozialdemokratie. Erläuterungen zum Erfurter Programm. Berlin 1907, S. 45. (deutschestextarchiv.de)

Ein solches Kriterium ist zu keiner Zeit so wünschenswert gewesen wie in der unsern, wo die Staatsunterstützung, die Einrichtung der Hochschulen, die nichtswürdige Protektionswirtschaft in den Volks- und Mittelschulen, (die leichter das Söhnchen der besseren Stände als das intelligenteste Arbeiterkind durch die Schule und auf die Universität bringt) einen wissenschaftlichen Scheinbetrieb züchtet, so breit, wie ihn noch keine Vorzeit gekannt hat.

Mauthner, Fritz: Wörterbuch der Philosophie. In: Mathias Bertram (Hrsg.): Geschichte der Philosophie. Berlin 2000 [1910], S. 24606. [DWDS]

Das Arbeiterkind in der Schule.

Wenn nun das Proletarierkind die ersten Jahre seines lebens in dem Kampf mit dem Elend ausgehalten hat, – nun, dann mag es eben zusehen, wie es sich weiter durchschlägt, denn seine Eltern haben nicht viel Zeit, die sie ihm widmen könnten, und erst recht wenig Mittel, seine Entwickelung zu fördern.

Das Arbeiterkind kommt in die Schule.

Parvus: Der Klassenkampf des Proletariats. Berlin 1911, S. 156.

Unvollständig ausgebildeter Farbensinn fand sich vom 3.-6. Lebensjahre bei Arbeiterkindern in 30 % der Fälle, bei Beamten- und Akademikerkindern überhaupt nicht.

Zentralblatt für Biochemie und Biophysik mit Einschluss der theoretischen Immunitätsforschung Bd. 22, Heft 2, 15. Februar 1920, S. 113.

Wo das ‚Akademikerkind‘ gepflegt und betreut, von Eltern oder gar Kinderpflegern unterstützt, in gemäßer Wohnung, ohne belastende Nebenarbeit und von der selbstverständlichen Bestimmung zur höheren Schule angetrieben, ausschließlich und unter günstigen Verhältnissen seiner Aufgabe lebt, bleibt das Proletarierkind meist ohne Aussicht an seine eigene Kraft gewiesen, zumeist in übler Wohnung, oft mit verdienenden Nebenarbeiten belastet, und weiß von vornherein, daß der Zugang zur höheren Schule und weitere durch Mittellosigkeit versperrt ist.

Die Deutsche Schule 31/2 (1927), S. 114.

Die nach den bisherigen Ergebnissen zur Zufriedenheit verlaufene Landessammlung der Kinderfreunde gibt die Möglichkeit, eine größere Anzahl von Arbeiterkindern an unseren organisierten Erholungs- und Erziehungsveranstaltungen teilnehmen zu lassen.

Dresdner Volkszeitung, 16. 7. 1931, S. 6. [DWDS]

Klaus, 15 Jahre alt, ist ein Akademikerkind. Vier seiner Brüder vor und nach ihm besuchen die Wissenschaftliche Oberschule, er kann es nur, und auch dies mit Mühe, bis in die Technische Oberschule bringen, die wohl unserer Hauptschule entspricht.

Österreichische Pädagogische Zeitschrift (1954), Nr. 1-19, S. 50.

Nach diesen Tatbeständen könnte man zunächst meinen, daß sich der »Klassencharakter« der deutschen Hochschulen doch recht beständig erhalten hat: einer über ein halbes Jahrhundert hinwegreichenden Konstanz des Anteils an Akademikerkindern steht ein sehr kleiner und nur unbeträchtlich wachsender Anteil an Arbeiterkindern auf den Hochschulen gegenüber.

Schelsky, Helmut: Die skeptische Generation. Düsseldorf 1957, S. 5. [DWDS]

Tiefer noch geht ein Widerstand, den Basil Bernstein im einzelnen analysiert hat und der bei der Befragung diese Form annimmt: „Akademikerkinder haben es leichter, die können sich schon besser ausdrücken, das macht viel aus " Es macht in der Tat viel aus. Bei den Eltern die Bereitschaft zu wecken, ihre Kinder auch dann ins Gymnasium zu schicken, wenn sie selbst keine höhere Ausbildung hatten, keine rechte Vorstellung von ihren Inhalten haben und jedenfalls bei dieser Ausbildung kaum helfen können, verlangt eine Schule, die die unterschiedlichen sozialen Voraussetzungen der ihr Anvertrauten aufzufangen und auszugleichen bestrebt ist.

Die Zeit, 26. 11. 1965, Nr. 48. [DWDS] (zeit.de)

Das Ziel der Bildungsreform, die Bildungschancen der sozial Schwachen zu erhöhen, ist durch die Abschaffung der Aufnahmeprüfung (Einführung der Orientierungsstufe) und die Reform der Oberstufe, die dem Schüler eine seinen persönlichen Interessen angepaßte Bildung ermöglichen sollte, trotz einiger Fortschritte nicht erreicht worden. Die Übergangsquote von der Grundschule zu den weiterführenden Schulen, speziell den Gymnasien, stieg zwar, und das bei den Arbeiterkindern in weit größerem Maße als bei den Akademikerkindern, aber diese Entwicklung stagniert und wir stehen mittlerweile vor dem Problem der völlig überfüllten Universitäten.

Die Zeit, 3. 1. 1975, Nr. 02. [DWDS] (zeit.de)

Er bestätigt auch die Beobachtung, daß Akademiker versuchen, ihre Kinder, wenn sie erst einmal den Sprung auf das Gymnasium geschafft haben, dort unbedingt zu halten. So gehen nur acht Prozent der sitzengebliebenen Akademikerkinder von der Schule ab, dagegen verlassen in dieser Situation 47 Prozent der Nichtakademikerkinder das Gymnasium.

Die Zeit, 22. 9. 1978, Nr. 39. [DWDS] (zeit.de)

Trotzdem bleiben die Akademikerkinder in gesellschaftlich hoch angesehenen Fächern wie Jura oder Medizin eher unter sich. Arbeiterkinder, sagt Rosita Lohmann, entscheiden sich eher für Fachhochschulen.

Der Tagesspiegel, 28. 4. 2000. [DWDS]

In Deutschland hat ein Akademikerkind laut Pisa eine fünf- bis siebenmal höhere Chance, aufs Gymnasium zu gehen als ein Arbeiterkind – bei gleicher Begabung.

Der Tagesspiegel, 5. 7. 2003. [DWDS]

In Deutschland stammen die meisten Abiturienten aus bildungsbürgerlichen Familien, Arbeiterkinder besuchen die Haupt- oder Realschule. Die frühe Selektion lässt sich nicht einmal damit begründen, dass deutsche Schüler in den Pisa-Studien besonders gute Leistungen bringen.

Die Zeit, 16. 4. 2012, Nr. 15. [DWDS] (zeit.de)