Wortgeschichte
Arbeiterjugend und Proletarierjugend im 19. Jahrhundert
Arbeiterjugend, ein Kompositum aus Arbeiter und Jugend, ist seit den 1840er Jahren im Deutschen belegt (1846). Im 19. Jahrhundert hat es die Bedeutungen Jugend, die der sozialen Schicht der Arbeiter entstammt
(1894b) sowie seltener die heute nicht mehr gängige Bedeutung Jugend, die dem Lohnerwerb nachgeht
(1870), wobei die Grenzen zwischen beiden Bedeutungen nicht immer eindeutig zu ziehen sind (1869a). Damit hat das Wort in den ersten Jahrzehnten seines Gebrauchs deutliche semantische Überschneidungen mit ArbeiterkindWGd, das in diesem Zeitraum die Bedeutungen Kind von Eltern, die der Arbeiterklasse angehören
sowie Lohnarbeit nachgehendes Kind
hat. Arbeiterjugend ist mithin die Bezeichnung für Menschen in der Übergangsphase vom Arbeiterkind zum Arbeiter, wobei zu dieser Zeit auch junge erwachsene Arbeiter noch unter Arbeiterjugend gefasst werden (1867; vgl. auch den Untertitel der ab 1909 erscheinenden Zeitschrift Arbeiter-Jugend. Organ für die geistigen und wirthschaftlichen Interessen der jungen Arbeiter und Arbeiterinnen). Die deutliche semantische Nähe der Wörter hängt möglicherweise auch damit zusammen, dass zum einen die Vorstellung der Jugend als eigenständiger Lebensphase sich erst im Verlauf des 19. Jahrhunderts und der Jahrhundertwende ausbildet. Zum anderen wurde die Volljährigkeit später als heutzutage erreicht; hier mag also mindestens teilweise auch ein juristisches Verständnis hineingespielt haben (1867). Die Kontexte, in denen das Wort Arbeiterjugend in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts begegnet, reichen dann von Kinderarbeit (1869a, 1870) bis zu Aus- oder Schulbildung (1877, 1894b). Das Wort scheint dabei zugleich Konnotationen, die die schlechten Lebensumstände der Arbeiterklasse betreffen, mitzuführen (1852, 1869b).
Abb. 1: DWDS-Wortverlaufskurve zu Arbeiterjugend und Proletarierjugend
DWDS (dwds.de) | Bildzitat (§ 51 UrhG)
In etwa zeitgleich zu Arbeiterjugend ist Proletarierjugend als Kompositum aus ProletarierWGd und Jugend belegt (1848), das allerdings von Beginn an und insgesamt deutlich weniger häufig als Arbeiterjugend verwendet wird (vgl. Abb. 1 sowie die entsprechende Wortverlaufskurve des Google NGram Viewers). Proletarierjugend, das Jugend, die der Arbeiterschicht, dem Proletariat entstammt
bedeutet und damit nahezu synonym zu Arbeiterjugend erscheint, begegnet insbesondere in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts häufiger als Arbeiterjugend in Form einer negativ konnotierten Fremdzuschreibung (1851, 1880). Daneben ist es auch in Debatten um Erziehung und Aus- bzw. Schulbildung mit durchaus unterschiedlicher Stoßrichtung in der Argumentation bezeugt (1850, 1857, 1875, 1895). Während Arbeiterjugend (und ArbeiterkindWGd) nun auch Jugend, die einem Lohnerwerb nachgeht, bezeichnet, ist diese Bedeutung für Proletarierjugend ebenso wenig wie für ProletarierkindWGd belegt.
Neue Bedeutung ab der Jahrhundertwende
Ab der Jahrhundertwende setzt eine wortgeschichtliche Entwicklung ein, die in der Ausbildung der neuen Bedeutung Organisation, die sich an junge Arbeiter richtet
sowie Gesamtheit ihrer Mitglieder
für Arbeiterjugend mündet. So begegnet das Wort seit Ende des 19. Jahrhunderts zunehmend auch im Kontext von (Arbeiter-)Organisationen bzw. Parteien (1894a, 1915) – zunächst allerdings wohl noch in der weiteren Bedeutung Jugend, die der Arbeiterschicht entstammt
. Ab 1909 existiert zudem eine Zeitschrift mit dem Titel Arbeiter-Jugend. Zunehmend werden in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, insbesondere nach Ende des Ersten Weltkriegs, aber auch eigene Jugendverbände, die sich dezidiert an eine Arbeiterjugend richten, gegründet. Vor diesem Hintergrund treten vermehrt Verbindungen wie sozialdemokratische Arbeiterjugend (1921) oder sozialistische Arbeiterjugend (1926, 1928) auf, innerhalb derer Arbeiterjugend nunmehr die kollektive Bedeutung Organisation, die sich an junge Arbeiter richtet
bzw. Gesamtheit ihrer Mitglieder
annimmt. Diese Entwicklung steht sicher in Zusammenhang mit der Gründung entsprechender Verbände, in denen Arbeiterjugend Teil des Namens wird. Für Proletarierjugend ist eine vergleichbare wortgeschichtliche Entwicklung zu verzeichnen (1919, 1920). Nicht zuletzt ist in den 1920er Jahren ein erster Verwendungshöhepunkt sowohl des Wortes Arbeiterjugend (vgl. die entsprechende Wortverlaufskurve des Google NGram Viewers) als auch des Wortes Proletarierjugend (vgl. die entsprechende Wortverlaufskurve) zu verzeichnen – letzteres möglicherweise mitbefördert durch die Gründung der Sozialistischen Proletarierjugend (1922).
Von der Bedeutung Organisation, die sich an junge Arbeiter richtet
ausgehend wird bereits in den 1920er Jahren das Wortes Arbeiterjugend auch im Nationalsozialismus gebraucht (1927), das hier für die Hitlerjugend
verwendet wird (1933, 1936). Gleichwohl ist die Verwendungsfrequenz ab den 1930er Jahren deutlich rückläufig und wird von Hitlerjugend überholt (vgl. die Wortverlaufskurve des Google NGram Viewers). Hintergrund ist sicherlich auch, dass mit dem Gesetz über die Hitlerjugend
1936 die Hitlerjugend zur Staatsjugend für die gesamte deutsche Jugend erklärt [wurde]
(Schmitz-Berning 2000, 310).
Arbeiterjugendbewegung, proletarische Jugendbewegung
Wohl in Zusammenhang mit der Entwicklung einer zunehmenden Organisation der Arbeiterjugend entsteht mit Arbeiterjugendbewegung im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts zudem ein neues Kompositum, das die in verschiedenen Verbänden und Vereinen organisierte Arbeiterjugend im Allgemeinen bezeichnet (1909, 1918a). Seine Bedeutung ist seither stabil, heutige Verwendungen sind jedoch in der Regel auf die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts bezogen (1957a, 1982, 1994b). *Proletarierjugendbewegung ist als Kompositum nicht bezeugt, jedoch ist die Verbindung proletarische Jugendbewegung (1907, 1918b) zunächst und noch bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts etwa gleich weit verbreitet wie Arbeiterjugendbewegung, bevor sich letztes gegenüber ersterem offenbar durchsetzt (vgl. die entsprechende Wortverlaufskurve des Google NGram Viewers).
Arbeiterjugend und Proletarierjugend in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts
Nach einem deutlichen Rückgang der Bezeugungen von Arbeiterjugend ab den 1930er Jahren lässt sich für die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts zunächst ein neuerlicher Bezeugungshöhepunkt beobachten, bevor die Verwendungsfrequenz ab den 1980er Jahren deutlich rückläufig ist (vgl. die entsprechende Wortverlaufskurve des Google NGram Viewers). Die Gründe für den starken Anstieg und Rückgang in der Verwendung sind sicher vielfältig und können an dieser Stelle nur in Ansätzen rekonstruiert werden. Nach 1945 begegnet Arbeiterjugend in Bezug auf die Gegenwart (1957b, 1968b) erneut auch in Kollokationen und Eigennamen, die auf einzelne Organisationen verweisen – so etwa katholische, Christliche und Evangelische (1951, 1955) sowie sozialistische Arbeiterjugend (1968a). Daneben treten weiterhin nunmehr auch Verwendungen, die der Beschreibung historischer Zusammenhänge des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts dienen (1957c, 1995b, 1999). Zum deutlichen Verwendungsanstieg beigetragen haben mag möglicherweise auch, dass vor dem Hintergrund des Selbstverständnisses der DDR als Arbeiter-und-Bauernstaat
die Arbeiterjugend
eine Rolle im öffentlichen Diskurs spielt; jedenfalls begegnet das Wort Arbeiterjugend etwa in Zusammenhang mit DDR, SED und FDJ (1958b, 1958a, 1965, 1983, 1985).
Rückläufige Tendenzen zu erklären ist naturgemäß schwieriger als steigende, lassen sich doch Beobachtungen zum Sprachmaterial hier vornehmlich ex negativo anhand dessen vornehmen, was nicht (mehr) an Quellenmaterial vorliegt. Insofern kann hier nur angenommen werden, dass das Ende der DDR die – allerdings bereits in den 1980er Jahren einsetzende – rückläufige Verwendungshäufigkeit von Arbeiterjugend weiter bestärkt haben wird. Ein zweiter sachhistorischer Grund für den deutlichen Rückgang der Verwendung des Wortes wird sicherlich nicht zuletzt auch im sukzessiven Übergang von der Industriegesellschaft zur postindustriellen Gesellschaft und den damit einhergehenden gesellschaftlichen Umbauprozessen zu suchen sein, die mit der zunehmenden Auflösung des traditionellen Milieus der Arbeiter in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts einhergeht.
Auch Proletarierjugend begegnet in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts sowohl in Bezug auf die Gegenwart (1975, 1994a) als auch in der Beschreibung historischer Zusammenhänge (1995a). Das Wort hat seinerseits ebenfalls noch einmal einen Anstieg in der Verwendungshäufigkeit in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, bevor auch hier die Verwendungsfrequenz im ausgehenden 20. Jahrhunderts sinkt (vgl. die entsprechende Wortverlaufskurve). Es ist jedoch im Vergleich zu Arbeiterjugend insgesamt weiterhin deutlich seltener bezeugt (vgl. die entsprechende Wortverlaufskurve des Google NGram Viewers).
Literatur
Schmitz-Berning 2000 Schmitz-Berning, Cornelia: Vokabular des Nationalsozialismus. Berlin/New York 2000 [Nachdruck der Ausg. Berlin/New York 1998].