Wortgeschichte
Revolutionäre
und Gesetzlose
: Frühe Bezeugungen
Anarchist ist im Deutschen seit der Zeit um 1800 bezeugt; als Erstbeleg gilt gemeinhin eine Verwendung in Wielands Göttergesprächen aus dem Jahr 17931) (1793, 1798, 1801). Das zugrundeliegende Wort ist Anarchie, Gesetzlosigkeit, Chaos
, das im Deutschen seit dem 17. Jahrhundert begegnet. Es geht auf das mittellateinische anarchia zurück, das seinerseits auf griechisch anarchía mit der Bedeutung Fehlen eines Anführers oder Heerführers
zurückzuführen ist (vgl.
25Kluge, 42). Anarchist wird allerdings nicht im Deutschen gebildet, sondern vermutlich aus dem Französischen entlehnt, wo anarchiste Anfang der 1790er Jahre als eine abfällige Bezeichnung für Jakobiner zu einem Schlagwort der französischen Revolution wird (vgl.
2DWB
II, 747).
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Zumindest im Englischen ist anarchist allerdings offenbar auch schon früher bezeugt: Das 3OED führt unter anarchist, n. and adj. einen Erstbeleg aus dem Jahr 1648 an der aber wohl von anarchy abgeleitet ist. Das Bedeutungsspektrum im englisch- ebenso wie französischsprachigen Raum kann zu dieser Zeit von moralischer Anarchie
über Unordnung
und Chaos
bis hin zu Desaster
(vgl.
GG I, 49) reichen: That the Egyptians were universally Atheists and Anarchists, such as..resolved all into Sensless Matter as the first and highest Principle.
Zugleich verweist das 3OED für die Etymologie von anarchist aber auch auf das Französische. Der TLFi hingegen führt unter anarchiste einen Erstbeleg aus dem Jahr 1791 an (vgl. daneben auch den Hinweis in 10Paul, 65, dass es sich bei Anarchist um eine Wortbildung der Französischen Revolution handele).
Ist anarchiste im Französischen Ende des 18. Jahrhunderts also deutlich an die Französische Revolution und die Jakobiner gekoppelt und auch im Deutschen zunächst und noch während des gesamten 19. Jahrhunderts in entsprechender Bedeutung Revolutionär
bezeugt (1827, 1845, 1897b), zeigt sich zugleich bereits wenige Jahre nach der Entlehnung eine Bedeutungserweiterung: Anarchist begegnet nun auch im Kontext anderer Ereignisse und Länder (1832, 1840a), als negativ konnotiertes Synonym für Philosoph (1839) oder als Parteibezeichnung (1813). Die Forschung hat zudem gezeigt, dass Anarchist zu dieser Zeit anders als gegenwärtig und viel stärker als Anarchie einem eher konservativen rechten
als einem linken
politischen Spektrum zuzuordnen ist (vgl.
GG I, 82).
Auf Wörterbuchebene wird das neue Wort bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts registriert, zunächst explizit als Fremdwort: Campe nimmt Anarchist in seinem Verdeutschungs-Wörterbuch mit der recht weiten und offenbar an einem älteren Anarchie-Verständnis orientierten Bedeutung ein Gesetzloser, Zügelloser
auf (2Campe Verdeutschung, 109; vgl. daneben auch die Buchungen in 1824 und 1834).
Anarchist und die 48er-Revolution
Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts bleibt Anarchist zwar nicht ausschließlich, aber doch vorwiegend auf das Ausland bezogen (1832, 1840a, 1840b). Das ändert sich spätestens in den Jahren 1848/1849: Nun begegnet das Wort auch im Kontext der 48er-Revolution in Deutschland (1848f) und bezeichnet damit politische Akteure ebenso wie eine Position oder Partei im politischen Spektrum (1849). Hinsichtlich der damit verbundenen politischen Grundidee liegt dem Wort jedoch noch immer ein recht weites Verständnis zugrunde, jedenfalls wird es offenbar zu dieser Zeit auch noch synonym für Demokrat (1848e) verwendet.
Zu den Kontextwörtern, mit denen Anarchist im 19. Jahrhundert häufig begegnet, gehören seit Ende der 1840er Jahre neben Demokrat (1849) auch Kommunist (1848b, 1882b) und Sozialist (1850, 1896a), ab den 1880er und 1890er Jahren zudem Sozialdemokrat (1884, 1886). Antonym ist unter anderem der BourgeoisWGd (1893, 1896c). Etwa auf die Mitte des 19. Jahrhunderts datieren erste Komposita mit Anarchist(en)- als Erstglied wie etwa Anarchistenpartei (1848g), Anarchistengelüste (1848a) oder wenig später Anarchistenkomplott (1856). Gleichwohl bleiben solche Komposita bis zum ausgehenden 19. Jahrhundert eher selten, erst ab den 1880er Jahren mehren sich die Belege.
Semantische Kontur ab den 1880er Jahren
Insgesamt ist die Bezeugungsfrequenz des Wortes im Deutschen noch bis in die 1870er Jahre hinein gering – erst ab den 1880er Jahren nimmt sie zu (vgl. die Wortverlaufskurve des Google NGram Viewers). Das ist wohl vor dem Hintergrund der Entwicklung des Anarchismus in Deutschland zu verstehen, der – anders als in anderen europäischen Ländern – auch aufgrund des Sozialistengesetzes erst im ausgehenden 19. Jahrhundert mehr Zulauf hat. Zu dieser Zeit kommt es vermehrt zu Anschlägen und Attentaten, insbesondere nach der Erfindung des Dynamits; bekanntestes Beispiel ist vielleicht das Attentat mit einer Feile auf die österreichische Kaiserin Elisabeth. Wohl vor dem Hintergrund der skizzierten Entwicklungen wird Anarchist nun auch im politisch-radikalen Sinn verwendet (10Paul, 65; 1898, 1899, 1910a).
Ebenfalls eine Entwicklung der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ist die Verwendung des Wortes als Selbstbezeichnung. Gemeinhin gilt Pierre-Joseph Proudhon als der erste, der sich selbst als Anarchist bezeichnet (vgl. etwa HWPh I, 279). Dass diese Selbstbezeichnung im deutschen Sprachraum registriert wurde (1846), spricht dafür, dass das Wort auch im Deutschen in den ersten Jahrzehnten nach der Entlehnung zunächst nur Fremdbezeichnung war. Als Selbstbezeichnung ist es dann mindestens seit Ende des 19. Jahrhunderts auch im Deutschen belegt (1895, 1911). Mit dieser Entwicklung einher geht eine Erweiterung auch der Konnotationen: War die Fremdbezeichnung wesentlich negativ konnotiert (1848d, 1848c), entsteht im Zusammenhang mit der Verwendung als Selbstbezeichnung auch eine nunmehr positiv belegte Verwendungsweise des Wortes (1897a).
Nicht zuletzt datieren erste Beleg der weiblichen Form Anarchistin auf das ausgehende 19. Jahrhundert (1896b, 1909, 1912). Bis in die 1970er Jahre hinein ist das Wort allerdings nur gelegentlich bezeugt (1921, 1947); erst ab den 1970ern und damit vor dem Hintergrund der Entstehung der sogenannten Anarcho-Szene und des Linksterrorismus der Zeit (siehe auch die Abschnitte zur den 1970er Jahren und zu Anarchist – Anarcho unten) ist Anarchistin etwas häufiger belegt (1969, 1972, 1974b; vgl. auch die Wortverlaufskurve für Anarchistin des Google NGram Viewers). Insgesamt bleibt die weibliche Form aber offenbar auch weiterhin selten (vgl. die Wortverlaufskurve den Google NGram Viewers).
70er Jahre des 20. Jahrhunderts: Terroristen
und Anarchos
Nach 1918 verliert der Anarchismus als politische Bewegung an Bedeutung (vgl.
HWPh I, 289). Mit Blick auf die Verwendung des Wortes Anarchist im Verlauf des 20. Jahrhunderts tritt eine nun mit Blick auf das 19. Jahrhundert historisierende Verwendung hinzu (1919, 1957), in der die Bedeutung Anhänger der Lehre bzw. der Bewegung des Anarchismus
gleichwohl stabil bleibt. Neu sind in den 1970er Jahren freilich Verwendungen, in denen Anarchist als Bezeichnung für Linksterroristen verwendet wird (1974d, 1975b). Daneben begegnen zudem Wortbildungen wie Anarcho-Terroristen (1975c) oder Anarchoide (1975a), vereinzelt auch Neo-Anarchist (1970) im Kontext des Linksterrorismus, der von seinen Inhalten und Zielen von einem Anarchismus im engeren Sinn zu unterscheiden ist. Insofern begreifen sich die als Anarchisten bezeichneten Akteure selbst auch nicht als solche, das Wort wird mithin – erneut – zu einer negativ konnotierten Fremdzuschreibung. Diese wortgeschichtliche Entwicklung von Anarchist ist wohl in Zusammenhang mit dem Bedeutungswandel von Anarchismus zu dieser Zeit zu verstehen:
Mit Anarchismus werden Personen, Gruppen, Bewegungen oder ideologische Richtungen negativ wertend charakterisiert, die vorgeblich oder tatsächlich aus politischen Motiven handelnd das sogenannt kapitalistische System sowie das etablierte Organisationssystem von Gesellschaft und Wirtschaft bekämpfen und insbesondere die Rechtsordnung und Herrschaftspraxis in der Bundesrepublik beseitigen wollen, um die eigenen politischen, sozialen oder ideologischen Ziele durchzusetzen. Dabei wird Anarchismus häufig in gleichem Sinn wie Terrorismus verwendet und auch auf solche Gruppen usw. bezogen, die mit dem Anarchismus nichts zu tun haben bzw. zu tun haben wollen […]. [Strauß 1989, 65–66]
Die mit Blick auf die Sach- und Theoriegeschichte eigentlich unzutreffende Gleichsetzung von Anarchismus und Terrorismus bzw. Anarchisten und Terroristen rührt ursprünglich offenbar vom offiziellen Sprachgebrauch her, der dann in die Allgemeinsprache übernommen wird:
Diese zuerst wohl im amtlichen Sprachgebrauch Anfang der 1970er Jahre, besonders in Äußerungen von Politikern, Regierung und Sicherheitsbehörden, getroffene Gleichsetzung von Anarchismus und Terrorismus ist als quasi-offizielle Sprachregelung auch von großen Teilen der bundesrepublikanischen Presse und Publizistik offenbar kritiklos übernommen worden […]. [Strauß 1989, 66]
Ebenfalls eine wortgeschichtliche Entwicklung der 1970er Jahre, die im Kontext der sachhistorischen Entwicklungen der Zeit einzuordnen ist, ist die Verknappung Anarcho. Komposita mit dem Erstglied Anarcho- sind nun bereits seit Ende des 19. Jahrhunderts und damit zeitgleich zur dargelegten semantischen Entwicklung ab den 1880er Jahren bezeugt (1882a, 1908, 1936). Alleinstehend und damit als Kurzwortbildung zu Anarchist ist Anarcho aber erst ab den 1970er Jahren belegt (1974a, 1974c; bei Beleg 1910b scheint es sich um eine Spontanbildung zu handeln). Die Bildung mit dem personenbezeichnenden Suffix -o ähnelt dabei Wörtern wie NormaloWGd. Es fällt auf, dass in den 70er Jahren ausschließlich die pluralische Form bezeugt ist, Anarchos mithin eine Gruppenbezeichnung ist (1975d, 1976). Ferner scheint Anarcho im Besonderen auch ein spezifisches politisches Feld zu bezeichnen, das zumindest zum Teil aus der Studentenbewegung heraus entsteht (1977a, 1977b), gelegentlich zudem im Kontext von Linksterrorismus begegnet (1981a), gleichwohl aber auch in einem breiteren Sinn linke alternative Gruppierungen und ihre Anhänger bezeichnet (1981b, 1983, 1991). Im Singular und damit als Bezeichnung für eine Sozialfigur der zweiten Hälfte des 20. Jahrhundert ist Anarcho seit Mitte der 1980er Jahren belegt (1985, 1986).
Kochtopf- und Internet-Anarchisten: Entwicklung seit den 1990er Jahren
Seit den 1990er Jahren lassen sich drei wesentliche semantische Entwicklungen beobachten: Erstens wird insbesondere Anarcho zunehmend historisierend mit der Bedeutung Anhänger einer linken Bewegung der 1970er und 1980er Jahre
gebraucht (1997, 2000a) und es wird häufig in einem Zuge mit weiteren Sozialfiguren der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts genannt (1991, 1993). Damit ist Anarcho einerseits semantisch enger gefasst als Anarchist. Andererseits sprechen neue Komposita wie TV-Anarcho (1994), Kopftopf- oder Küchen-Anarchist (1996a, 1996b), Singer-/Songwriter-Anarcho (2001c), Anarcho-Sportler (2012b) oder Keks-Anarcho (2014) dafür, dass sowohl Anarchist als auch Anarcho zugleich (weiter) an semantischer Kontur verlieren, mithin eine Bedeutungserweiterung erfahren und nunmehr neben den weiterhin bestehenden älteren Bedeutungen auch sehr viel allgemeiner eine Person bezeichnen können, die sich nicht nach gesellschaftlichen Konventionen richtet oder innerhalb eines organisierten Rahmens handelt.
Für die Zeit seit der Jahrtausendwende fällt schließlich auf, dass Anarchist in einem neuen Feld verwendet wird, genauer in Zusammenhang mit dem Internet. Wortbildungen des 21. Jahrhunderts sind insbesondere Internet-Anarchist (2000b, 2003a, 2012a), Krypto-Anarchist (2001b, 2003b) und Cyber-Anarchist (2001a, 2011). Diese Wortbildungen bzw. die Affinität für das Wort Anarchist in Kontexten, die das World Wide Web betreffen, sind vermutlich vor dem Hintergrund einzuordnen, dass das Internet – insbesondere in den frühen Jahren – als unstrukturierter und unregulierter Raum wahrgenommen worden ist.
Anmerkungen
1) Vgl. zur Datierung GG I, 81 Fußnote 172.
Literatur
2Campe Verdeutschung Campe, Joachim Heinrich: Wörterbuch zur Erklärung und Verdeutschung der unserer Sprache aufgedrungenen fremden Ausdrücke. Ein Ergänzungsband zu Adelung’s und Campe’s Wörterbüchern. Neue stark vermehrte und durchgängig verbesserte Ausgabe. (Documenta Linguistica. Quellen zur Geschichte der deutschen Sprache des 15. bis 20. Jahrhunderts. Reihe II. Wörterbücher des 17. und 18. Jahrhunderts. Hrsg. von Helmut Henne.) Reprografischer Nachdruck der Ausgabe Braunschweig 1813. Hildesheim/New York 1970. (mdz-nbn-resolving.de)
2DWB Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm. Neubearbeitung. Hrsg. von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften (vormals Deutsche Akademie der Wissenschaften) und der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen. Bd. 1–9. Stuttgart 1983–2018. (woerterbuchnetz.de)
GG Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Hrsg. von Otto Brunner, Werner Conze, Reinhart Koselleck. Bd. 1–8. Stuttgart 1972–1997.
HWPh Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hrsg. von Joachim Ritter, Karlfried Gründer, Gottfried Gabriel. Völlig neubearb. Ausg. des „Wörterbuchs der philosophischen Begriffe“ von Rudolf Eisler. Bd. 1–13. Basel 1971–2007.
25Kluge Kluge – Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. Bearb. von Elmar Seebold. 25., durchgesehene und erweiterte Aufl. Berlin/Boston 2011.
3OED Oxford English Dictionary. The Definite Record of the English Language. Kontinuierlich erweiterte digitale Ausgabe auf der Grundlage von: The Oxford English Dictionary. Second Edition, prepared by J. A. Simpson and E. S. C. Weiner, Oxford 1989, Bd. 1–20. (oed.com)
10Paul Paul, Hermann: Deutsches Wörterbuch. Bedeutungsgeschichte und Aufbau unseres Wortschatzes. 10., überarbeitete u. erweiterte Aufl. von Helmut Henne, Heidrun Kämper und Georg Objartel. Tübingen 2002.
Strauß 1989 Strauß, Gerhard: Politik und Ideologie. In: Gerhard Strauß/Ulrike Haß/Gisela Harras (Hrsg.): Brisante Wörter von Agitation bis Zeitgeist. Ein Lexikon zum öffentlichen Sprachgebrauch. Berlin/New York 1989, S. 25–394.
TLFi Trésor de la language française informatisé (Trésor de la language française, sous la direction de Paul Imbs/Bernard Quemada. Bd. 1–16. Paris 1972–1994). (atilf.fr)