Wortgeschichte
Die Ausgangsbedeutung
Die Abgehängten bezeichnet eine Gruppe von Menschen, die am ökonomischen und gesellschaftlichen Fortschritt nicht teilhaben und deshalb als wenig gebildet und tendenziell arm gelten. Das Wort, das sich überwiegend im Plural findet, ist ein substantiviertes Partizip zum Verb abhängen etwas Angeschlossenes, Angekuppeltes losmachen
(s. 2DWB, 1, 367), nicht zu verwechseln mit abhängen herab-, herunterhängen
bzw. durch etwas bedingt sein
(s. dazu 2DWB, 1, 366). In dieser Ausgangsbedeutung bezieht sich abhängen unter anderem auf Gerätschaften, deren Einzelteile in irgendeiner Weise voneinander entkoppelt werden (etwa Bälge in dem Beleg 1693), oder auch auf Transportmittel wie Equipage (1779). Später ist dann auch von der Eisenbahn die Rede, deren Waggons an- oder abgehängt werden können (1873).
Übertragungen
Das Bild des vom weiterfahrenden Zug abgehängten Waggons liegt offenbar zahlreichen übertragenen Verwendungen des Verbs zugrunde, die ab den 1920er Jahren bezeugt sind. So kommt umgangssprachlich abgehängt (sein) in der Bedeutung nicht mehr interessant für jemanden (sein)
auf (im Beleg 1921 als Synonym zu abgemeldet (sein), vgl. auch 1938, 1950). Neben diesen auf private zwischenmenschliche Verhältnisse bezogenen Gebräuchen entwickelt sich abhängen bzw. abgehängt sein dann vor allem als Ausdruck des Rennsports sowie für Wettrennen allgemein (1924, 1967, 1980, 1999a).
Die Situation des Abgehängtseins im Wettrennen ist Ausgangspunkt für weitere Metaphern: Die Positionierung im Rennen wird übertragen auf Konkurrenzsituationen in der Wirtschaft, der Politik und anderen Lebensbereichen, bei denen ein Bewerber ins Hintertreffen gerät bzw. andere hinter sich lässt (1983, 2004a).
Dass Gruppen oder auch Regionen vom gesellschaftlichen und ökonomischen Fortschritt abgehängt sind bzw. zu den Abgehängten zählen, wird vereinzelt seit den 1970er Jahren thematisiert (1971, 1992a); eine größere Verbreitung dieses metaphorischen Gebrauchs von abgehängt sein ist jedoch erst für die späten 1990er Jahre festzustellen. Abgehängt sein bzw. abgehängt werden betrifft in Belegen dieser Zeit etwa die Arbeitslosen (1998), den armen Teil der Gesellschaft, der in Ghettos wohnt (1999b, vgl. auch GhettoWGd). Vor allem wird aber auch das Gefühl, abgehängt zu sein, wiederholt angesprochen (1992b und 1998).
Von den ökonomisch Benachteiligten zu den Modernisierungsverlierern
Neben die metaphorischen Verwendungen des passivischen Verbs abgehängt sein tritt um die Jahrtausendwende die entsprechende Substantivierung die Abgehängten, die sich in der Folge zu einem festen Begriff entwickelt. Mit diesem Ausdruck, der sich übrigens zuerst mit Bezug auf die Bevölkerung der ehemaligen DDR findet (2000a, vgl. 2015), werden allerdings nicht allein ökonomisch benachteiligte Gruppen bzw. Regionen bezeichnet (2000b). Hier wird vielmehr insofern ein breiteres Verständnis von gesellschaftlicher Benachteiligung greifbar, als der Ausdruck auch all jene umfasst, die an zentralen gesellschaftlichen Trends wie Globalisierung und Digitalisierung nicht teilhaben. Als die Abgehängten sind hier somit nicht nur die Armen, sondern allgemein die Modernisierungsverlierer aufzufassen (1990, 2017a). Dieses erweiterte Verständnis von Benachteiligung kommt explizit auch in der Verbindung kulturell Abgehängte bzw. kulturell abgehängt sein zum Ausdruck (vgl. 2004c, 2017b).
Zu betonen ist allerdings, dass es sich, wenn von den Abgehängten oder vom Abgehängtsein die Rede ist, meist um eine Bezeichnung handelt, die sich auf andere bezieht. Von der eigenen Person bzw. Gruppe und deren Stellung wird es in der Regel nicht gesagt – die trotzige Art, mit der man sich den Ausdruck gelegentlich zu eigen macht (Wir sind hier die Abgehängten!, 2015), bestätigt die Tatsache, dass es sich im Kern um eine Fremdbezeichnung handelt. Das Wort wird auch oft dann verwendet, wenn nach Erklärungen für Populismus, gesellschaftliche Spaltung und Radikalisierung gesucht wird: Es sind die Abgehängten (oder diejenigen, denen ein Gefühl des Abgehängtseins zugeschrieben wird), die populistische oder radikale Parteien und Politiker wählen und sich damit gegen die fest mit dem Fortschritt assoziierte gesellschaftliche Mitte stellen (vgl. 2007, 2017a).
Die Konjunktur dieses Ausdrucks seit der Jahrtausendwende kann als Versuch interpretiert werden, rezente politische und soziale Entwicklungen, die sich traditionellen ökonomischen Deutungsmustern entziehen, sprachlich zu fassen und einzuordnen. In der Loslösung von vorwiegend ökonomischen Bezügen hin zu einer umfassenderen, kulturellen
Sicht auf gesellschaftliche Ungleichgewichte unterscheidet sich der Wortgebrauch ab der Jahrtausendwende dann auch am deutlichsten von seiner früheren Verwendungsgeschichte.
Implikationen der Metapher
Das Bild von den gesellschaftlich Abgehängten enthält aufschlussreiche semantische Implikationen, setzt es doch eine Konzeptualisierung von Gesellschaft voraus, die diese grundsätzlich als rasant fortschreitend begreift. Diese Metapher ergibt somit nur deshalb Sinn, weil die unaufhaltsame und sich stets beschleunigende Modernisierung, die wie ein Zug über die Strecke rast bzw. alle in einem Wettrennen gegeneinander antreten lässt, als Normalzustand vorausgesetzt wird. Gesellschaftskritisches Potential hat dieser Ausdruck also nicht. Eher tritt hier eine mitleidig-herablassende Haltung zu Tage: Wer im Wettrennen aller gegen alle nicht mitkommt, ist eben zu schwach und zu langsam, und wer wie ein Waggon vom weiterfahrenden Zug des Fortschritts abgehängt wird, bewegt sich nicht aus eigener Kraft und ist damit nicht Subjekt, sondern lediglich Objekt ohne eigene Handlungsmacht. Letzten Endes bringt die Abgehängten also eine – wenn auch implizite – Abwertung der betreffenden gesellschaftlichen Gruppen zum Ausdruck.
Metaphorische Weiterung: Die Abgehängten werden mitgenommen
Innerhalb des Bildfeldes, das die Metapher des Wettrennens bzw. des abgehängten Waggons eröffnet, hat sich in jüngerer Zeit auch ein anderer Ausdruck entwickelt, der in Texten häufig in enger Nachbarschaft zu die Abgehängten vorkommt: das Verb mitnehmen. So heißt es stereotyp, dass die Abgehängten mitgenommen werden müssen, d. h. dass ihnen die Möglichkeit gegeben werden soll, am Fortschritt angemessen zu partizipieren (2016, 2017c). Auch dieser Ausdruck wird oft im Rahmen von Erklärungsversuchen für populistische Strömungen in Politik und Gesellschaft verwendet, und auch hier kommt insofern eine implizite Abwertung der gemeinten Personen zum Ausdruck, als diese im Bild des Mitgenommenwerdens als unselbständig und passiv in Erscheinung treten.
Literatur
2DWB Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm. Neubearbeitung. Hrsg. von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften (vormals Deutsche Akademie der Wissenschaften) und der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen. Bd. 1–9. Stuttgart 1983–2018. (woerterbuchnetz.de)
Weitere wortgeschichtliche Literatur zu Abgehängter, Abgehängte, abhängen, mitnehmen, Modernisierungsverlierer.