Wortgeschichte
Zweimal gammeln: Etymologien
Seit der Mitte des 20. Jahrhunderts begegnet gammeln nicht nur in der Bedeutung alt, faulig werden, verrotten, verschimmeln
(1999), allgemeiner auch verfallen
(1969a), sondern nunmehr auch mit der Bedeutung keiner geregelte Arbeit nachgehen, in den Tag hineinleben
im engeren (1966f) sowie faulenzen, erholen, sich entspannen
im weiteren Sinn (1967b). Diese beiden Bedeutungsstränge haben unterschiedliche etymologische Wurzeln.
Die Bedeutung verrotten
geht auf das Niederdeutsche zurück und gehört zu einem in den skandinavischen Sprachen belegten Adjektiv mit der Bedeutung alt
, dessen Herkunft nicht geklärt ist (vgl. Pfeifer unter gammeln1DWDS), vgl. zum Dänischen ODS 6, 646). Gammeln ist mit dieser Bedeutung vornehmlich im norddeutschen Raum beheimatet. Neben dem Simplex gammeln begegnet auch die Präfixbildung vergammeln verderben
(1951). Die Wendung vor sich hin gammeln, die häufig belegt ist, ist ab Ende der 1960er Jahre in den DWDS-Korpora belegt (1969a, 1974, 1987).
Die Herkunft der nicht mit abwertenden Konnotationen verbundenen Bedeutung faulenzen, erholen, sich entspannen
ist dahingegen nicht abschließend geklärt. Möglich ist, dass sie an das westmitteldeutsche, insbesondere das rheinische und hessische gammeln, auch gambeln bzw. gumpeln, anknüpft (vgl. Pfeifer unter gammeln2DWDS). Das Rheinische Wörterbuch bucht gampe(l)n mit den Bedeutungen umherschlendern, bampeln, sich schlecht halten
sowie betteln
(Rheinisches Wörterbuch 2, 997). Andererseits ist gammeln wohl auch im norddeutschen Raum ein polysemes Wort, dass auch die Bedeutungen sich herumtreiben
(vgl. Niedersächsisches Wörterbuch 5, 28) oder lästig bitten, betteln
(Mecklenburgisches Wörterbuch 3, 30) haben kann. Es wäre durchaus denkbar, dass sich das zunächst negativ konnotierte gammeln von hier aus bildet.
Gammler gammeln
: Gammeln im Themenfeld Gesellschaft
Mit der Entstehung der Bedeutung in den Tag hineinleben, faulenzen
Mitte der 1960er Jahre wird das Verb gammeln zu einem Wort, das man dem Themenfeld Gesellschaft zuschlagen kann. Vermutlich verbreitet sich das Wort vom nördlichen Schleswig-Holstein aus über den gesamten deutschsprachigen Raum – jedenfalls beobachtet Reimut Jochimsen bereits 1953, dass das Wort dort eine neue Bedeutung erhält, die in anderen Regionen nicht verstanden wird (vgl. Jochimsen 1953, 296–297). Mit der neuen Bedeutung findet gammeln in etwa zeitgleich zur Entstehung des Substantivs GammlerWGd (1963a, 1963b, 1963c) weitere Verbreitung. Zunächst wird das Verb offenbar vornehmlich auf Jugendliche bezogen und ist dabei überwiegend negativ konnotiert (1965, 1966b, 1966e, 1966f). Die Bedeutungsaspekte korrespondieren dabei in Teilen mit einer angenommenen bestimmten Haltung der Jugendlichen der Gesellschaft gegenüber, d. h. mit Gammeln
als Gegenentwurf zur Leistungsgesellschaft (1967a, 1976b). Die Bedeutung von gammeln kann hier mit keiner geregelte Arbeit nachgehen, in den Tag hineinleben
angegeben werden. Anders formuliert: Gammler gammeln (1969b). Dazu ist zudem die Substantivierung Gammeln ist seit Mitte der 1960er Jahre bezeugt (1966a, 1966c).
Die unspezifischere und nicht mehr auf die Subkultur der Gammler bezogene Bedeutung faulenzen, erholen, sich entspannen
entsteht bereits wenige Jahre nach der Entstehung der Bedeutung keiner geregelte Arbeit nachgehen, in den Tag hineinleben
(1967b, 1997). Diese Verwendung überwiegt gegenwärtig. Jüngst wird gammeln auch synonym zu anderen Wörtern der Jugendsprache wie chillen oder abhängen verwendet (2004).
Gamm(e)lig. Adjektiv-Bildungen
Zum Verb gammeln gehört das Adjektiv gammelig bzw. gammlig. In der Bedeutung alt, verrottet, verschimmelt
(1958), das seinerseits zunächst im norddeutschen Raum verbreitet war, ist es bereits früh bezeugt: So wird gammelig im Versuch eines bremisch-niedersächsischen Wörterbuchs bereits 1767 mit der Bedeutung was anfängt zu schimmeln, und daher einen üblen Geschmack erhält
gebucht (Bremisch-niedersächsisches Wörterbuch 2, 478). Allgemeiner kann gammelig in dieser Bedeutungslinie auch alt, verfallen
bedeuten (1976a) – von hier ist auch die feste Verbindung alt und gammelig zu verstehen (2003).
Mit der Entstehung der neuen gesellschaftlichen Bedeutung für das Verb gammeln erhält auch das Adjektiv gammelig eine neue Bedeutung: Es bezieht sich nun auf das äußere Erscheinungsbild zunächst vornehmlich jener als Gammler bzw. gammelnden bezeichneten Jugendlichen (1966d, 1971b, 1971a). Von hier aus entsteht auch für das Adjektiv eine breitere Bedeutung, in der gammelig nurmehr unansehnlich
bedeutet (1972, 2009).
Weitere Wortbildungen
Nicht zuletzt bilden sich in den beiden wortgeschichtlichen Entwicklungslinien eine Reihe an weiteren Wortbildungen aus. In der Bedeutungslinie des semantischen Feldes Gesellschaft etwa entstehen Komposita wie Gammeltag (1985, 2000), Gammelleben (1975) oder Gammellook (1977, 2002).
Eine Wortbildung in der semantischen Tradition von alt, verrottet, verfault
, die Mitte der 2000er Jahre infolge eines größeren Lebensmittelskandals weitere Verbreitung findet, ist Gammelfleisch (2005c, 2005a), dazu auch Gammelfleischskandal (2005b). Ganz neu ist das Kompositum Gammelfleisch dabei im Übrigen nicht: Im Norddeutschen ist die Bildung bereits früher bezeugt, das Niedersächsische Wörterbuch etwa bucht Gammelflēsch 1998 mit der Bedeutung nicht mehr einwandfreies Fleisch
(Niedersächsisches Wörterbuch 5, 28). Zudem kann Gammel als Substantiv mindestens seit dem 19. Jahrhundert norddeutschen Raum faules Fleisch
bzw. minderwertige Ware, Ausschuss, Abfall
bedeuten (vgl. Mecklenburgisches Wörterbuch 3, 30 und Hamburgisches Wörterbuch 2, 249).
Gammelfleisch belegt bei der Wahl zum Wort des Jahres 2005 Platz fünf; in der Pressemitteilung der Gesellschaft für deutsche Sprache heißt es dazu: Gammelfleisch auf Platz fünf steht für den Fleischskandal, der in der zweiten Jahreshälfte erschreckende Dimensionen annahm.
(Wort des Jahres, online). Gammelfleisch mit der Bedeutung in den Handel gebrachtes, für den Verzehr nicht mehr zugelassenes Fleisch
(vgl. Neologismenwb. unter Gammelfleisch) ist fest im Deutschen etabliert (2006, 2015). In der Jugendsprache wird daraufhin das Kompositum Gammelfleischparty mit der Bedeutung Party für über 30jährige
gebildet (2013a, 2013b), das 2008 zum Jugendwort des Jahres gewählt wurde.
Literatur
Bremisch-niedersächsisches Wörterbuch Tiling, Eberhard: Versuch eines bremisch-niedersächsischen Wörterbuchs: worin nicht nur die in und um Bremen, sondern auch fast in ganz Niedersachsen gebräuchliche eingenthümliche Mundart nebst den schon veralteten Wörtern und Redensarten, in bremischen Gesetzen, Urkunden, und Diplomen, gesammelt, zugleich auch nach einer behutsamen Sprachforschung, und aus Vergleichung alter und neuer verwandter Dialekte, erkläret sind. Bd. 1–6. Bremen 1767–1771 und 1869.
Hamburgisches Wörterbuch Hamburgisches Wörterbuch / auf Grund der Vorarb. von Christoph Walther und Agathe Lasch hrsg. von Hans Kuhn und Ulrich Pretzel, fortgef. von Jürgen Meier und Dieter Möhn, bearb. von Käthe Scheel und Jürgen Meier. Neumünster 1985–2006.
Jochimsen 1953 Jochimsen, Reimut: Gammeln, Hotten, Stenzen. Aus dem Wörterbuch der Jugend von heute. In: Muttersprache. Zeitschrift zur Pflege und Erforschung der deutschen Sprache. Jg. 1953, S. 296–299.
Mecklenburgisches Wörterbuch Wossidlo/Teuchert: Mecklenburgisches Wörterbuch. Unveränd., verkleinerter Nachdr. der Erstaufl. von 1937–1992. Hrsg. von der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig. Neumünster 1996.
Neologismenwb. Leibniz-Institut für deutsche Sprache (IDS): Neologismenwörterbuch. (owid.de)
Niedersächsisches Wörterbuch Niedersächsisches Wörterbuch / auf Grund der Vorarbeiten von Hans Janßen† und unter Mitwirkung eines Arbeitskreises niedersächsischer Mundartforscher herausgegeben von der Abteilung für niedersächsische Mundartforschung des Seminars für Deutsche Philologie der Universität Göttingen durch Wolfgang Jungandreas. Neumünster 1965-.
ODS Ordbog over det danske sprog. Grundlagt af Verner Dahlerup. Udgivet af det Danske Sprog- og Litteraturselskab. Bd. 1 ff. København 1918 ff.
Pfeifer Pfeifer, Wolfgang u. a.: Etymologisches Wörterbuch des Deutschen (1993), digitalisierte und von Wolfgang Pfeifer überarbeitete Version im Digitalen Wörterbuch der deutschen Sprache. (dwds.de)
Rheinisches Wörterbuch Rheinisches Wörterbuch. Auf Grund der von J. Franck begonnenen, von allen Kreisen des rheinischen Volkes unterstützten Sammlung. Bd. 1–9. Bonn/Berlin 1928–1971. (woerterbuchnetz.de)
Wort des Jahres Gesellschaft für deutsche Sprache e. V.: Wort des Jahres. (gfds.de)
Weitere wortgeschichtliche Literatur zu gammeln, gammelig, Gammelfleisch.