Wortgeschichte
Verfangen, verknüpft und verbunden: Ältere Wortgebräuche
Im 14. Jahrhundert tritt das vom Substantiv Netz abgeleitete Verb vernetzen singulär in der Bedeutung in/mit einem Netz fangen, umgeben
auf (14. Jh.). Diese auf das Netz als textiles Gebilde bezogene konkrete Lesart des Verbs bleibt insgesamt selten – im Unterschied zum bedeutungsähnlichen Verb verknüpfen, das auch gegenwärtig noch in der Bedeutung Fäden, Schnüre durch Knoten miteinander verbinden
gebräuchlich ist. Vereinzelte Nachweise finden sich im 17. und 18. Jahrhundert für eine allegorische Verwendung von vernetzen in religiösen Kontexten (1684, 1737).
Ein Beleg für die Substantivierung Vernetzung in der Bedeutung Umspannen mit einem Netz
findet sich im Jahr 1873 in einem Text über den in Wien auf dem Weltausstellungsgelände bereitgestellten Fesselballon „Ballon Captif“.1)
Die Präfixbildungen vernetzen und Vernetzung werden erst im 19. Jahrhundert in medizinischen und botanischen Schriften in fachspezifischen Zusammenhängen gebräuchlicher. Hier tritt eine neue Bedeutung etwas netzartig miteinander verbinden, verknüpfen
auf (auf Vernetzung bezogen netzartige Verbindung, Verknüpfung
). Möglicherweise kann die Präfixbildung vernetzen hier als eigenständige Ableitung von der polysemen Basis Netz beschrieben werden. Damit wäre die neue Lesart nicht auf eine gewandelte Bedeutung, die unmittelbar aus der älteren Bedeutung hervorgegangen ist, zurückzuführen. Entsprechend der Verwendung von NetzwerkWGd zu jener Zeit beziehen sich die Bildungen auf die netzartigen Verzweigungen der feinen (Blut-)Gefäße und (Nerven-)Zellen von Lebewesen sowie auf die verzweigten Strukturen von (Pflanzen-)Fasern (1818, 1840, 1845a).
Seit den 1930er Jahren kommt ein weiterer fachsprachlicher Gebrauch hinzu: Im Bereich der Chemie wird vernetzen in der Bedeutung Moleküle zu einem netzartigen Zusammenschluss verknüpfen
verwendet (1943), auf Vernetzung bezogen in der Bedeutung Verknüpfung von Molekülen zu einem Netzwerk
.
Ein auf die wechselseitigen Verbindungen und Beziehungen von Menschen übertragener Gebrauch kommt im 19. Jahrhundert vereinzelt auf (1843, 1856). Im Unterschied zur Verwendung des Wortes NetzwerkWGd bleiben Belege für vernetzen und Vernetzung mit Bezug auf technische infrastrukturelle Systeme, wie Strom-, Telegraphenleitungen und Verkehrswege selten (1859, 1895; ungewohnt ist die lyrische Verwendung bei Rainer Maria Rilke 1898).
Vernetztes Denken: Wortgebrauch in den 1970/80er Jahren
Außerhalb des fachsprachlichen Gebrauchs sind die Bildungen vernetzen und Vernetzung bis Ende der 1970er Jahre eher selten in anderen Verwendungszusammenhängen anzutreffen, hier zum Beispiel mit Bezug auf Wirtschaftsbeziehungen (1973a), Verkehrsplanung (1979a, 1979b) oder auf soziale Beziehungen von Menschen (1973b, 1975). Die zurückhaltende Verwendung der Bildungen wird meist durch distanzierende Anführungszeichen angezeigt.
Ende der 1970er Jahre kommt es im Zusammenhang mit populären Sachbüchern des Biochemikers Frederic Vester und einer von ihm konzipierten viel beachteten Ausstellung zu einer medialen Berichterstattung über Vesters Verständnis vom Wirkungsgefüge einer komplexen Welt, die er als vernetzt beschreibt. Auch wenn die Ausdrücke vernetzen und Vernetzung anfangs offenbar noch als gewöhnungsbedürftig empfunden werden (die Frankfurter Allgemeine Zeitung schreibt 1979c man solle sich von der Wortschöpfung
), werden sie in den zeitgenössischen Medien schnell angenommen und gebräuchlicher. Dass die Begrifflichkeit auf Vesters Ansatz zurückgeht, wird des Öfteren auch später noch erwähnt (1983, 1990).Vernetzung
nicht gleich abschrecken lassen
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Unsere Welt – ein vernetztes System
Vom linearen zum vernetzten Denken und Handeln – dieses Leitmotiv wird zur Grundlage neuer Wege der Systemplanung, die Vester propagiert (vgl. FAZ 1979a). Die Erkenntnis, dass alles mit allem zusammenhängt
ist nicht neu: Alexander von Humboldt gilt als visionärer Vordenker dieser Denkrichtung (1807, 1845b vgl. Wulf 2016, 309). Der Universitätsprofessor Frederic Vester macht die Wortverbindungen vernetztes Denken, vernetztes System durch seinen kybernetischen Ansatz doch erst im 20. Jahrhundert populär (1982). Die 1978 zum 75-jährigen Bestehen des Deutschen Museums in München eröffnete Wanderausstellung Unsere Welt – ein vernetztes System (Vester 1978) wird über Jahre in vielen deutschen Städten, auch im deutschsprachigen Ausland gezeigt. Vester hat eine große Medienpräsenz: Als erfolgreicher Autor von Fernseh- und Hörfunksendungen und populärwissenschaftlichen Büchern, sogar eines Gesellschaftsspiels, macht er sein Systemverständnis von einer vernetzten Welt einem breiten Publikum zugänglich. In Nachrufen wird er als Vater des vernetzten Denkens
bezeichnet (2003a).
Alles hängt mit allem zusammen: Vernetzen und Vernetzung im Informationszeitalter
Durch die rasanten Entwicklungen im Bereich der Informationstechnologie und besonders mit dem Aufkommen des Internets wird die Welt, die Gesellschaft und der Mensch selbst zunehmend als vernetzt begriffen: Alles hängt zusammen, alles ist vernetzt (vgl. 1987, 1997). Die Gebrauchsfrequenz von vernetzen und Vernetzung steigt seit den 1980/90er Jahren deutlich an, die Bildungen gehen in den allgemeinen Wortschatz ein (vgl. Abb. 1).
Abb. 1: Wortverlaufskurve „vernetzen, Vernetzung“
DWDS (dwds.de) | Bildzitat (§ 51 UrhG)
Wenn von Vernetzung und vernetzen die Rede ist, geht es um Austausch und Kommunikation, um das Teilen von Informationen, Daten und Wissen. Vernetzen meint, dass voneinander entfernte Dinge/Objekte, Prozesse, Personen oder auch Ideelles miteinander verbunden werden und entweder physisch oder inhaltlich zum Zwecke des Austauschs und der wechselseitigen Unterstützung in eine Beziehung zueinander gebracht werden. Mit der entsprechenden Substantivierung Vernetzung wird der Prozess und Zustand des Vernetzens bezeichnet.
Seit den 1980ern werden die Bildungen vielfach mit Bezug auf den EDV-Bereich gebraucht: Vernetzen meint hier Computer (zu einem Netzwerk) miteinander verbinden
, Vernetzung bezeichnet den Zusammenschluss mehrerer voneinander unabhängiger Computer zum Zwecke des Datenaustauschs (1980, 1986a, 1998, 2017a; häufig partizipial, z. B. vernetzte Rechner 2010, vernetztes Zuhause 2017b).
Auch außerhalb des EDV-Bereichs nimmt der Gebrauch der Bildungen zeitgleich zu: Verbindungen und Beziehungen von Menschen, Firmen, Behörden, Organisationen, Themen etc. werden als netzförmig wahrgenommen und entsprechend bezeichnet (1986b, 1991). Das Verb kann transitiv gebraucht werden (er will die urbanen Zentren vernetzen
2017c), in Bezug auf Personen jedoch meist reflexiv in der Lesart berufliche oder private Kontakte herstellen und pflegen
: Wer sich vernetzt bringt sich mit anderen in Verbindung, knüpft Kontakte persönlicher oder beruflicher Art und ist infolgedessen in ein (vorteilhaftes) Beziehungsnetz eingebunden (1992, 2009, 2017d). Hier steht das Verb auch häufig im Partizip in der Verbindung gut vernetzt sein (2003b, 2017e) oder im Zustandspassiv (sie ist bestens vernetzt
2014a).
Digital Detox und die Gegenwörter entnetzen und Entnetzung
Die bereits im Jahr 1691 in Kaspar Stielers Werk Teutscher Sprachschatz aufgenommene Präfixbildung entnetzen (Stieler, 1350) ist mit der Bedeutung das Netz wegziehen
abgesehen von Wörterbuchnachweisen ungebräuchlich. Erst in den 2000er Jahren finden sich vermehrte Nachweise für das Verb entnetzen und die Substantivierung Entnetzung. Nach Jahren einer regelrechten Netzwerk-Euphorie
werden Stimmen laut, die ein Umdenken hinsichtlich der propagierten allumfassenden und allgegenwärtigen Konnektivität verlangen und auf die Probleme der digitalen Vernetzung hinweisen (2006, 2011a, 2011b). Die Bildung entnetzen (und entsprechend Entnetzung) wird – beispielsweise in der Forderung Entnetzt euch!
(vgl. 2014b) – in der Bedeutung (Netz-)Verbindungen lösen, trennen
(2011c, 2015) in den Diskursen der Netzwerkkritik bekannt.2)
Das Präfix ent- hat hier also privative Wortbildungsfunktion (Haben-/Nichthaben-Relation)3) und steht in antonymischer Beziehung zu den mit dem Präfix ver- abgeleiteten Bildungen vernetzen und Vernetzung. In der auf dem Buchmarkt erscheinenden Ratgeberliteratur zum Thema (z. B. Ich bin dann mal offline
Koch 2010) wird entnetzen in einer spezifischeren Lesart auf digitale Medien, Smartphones u. ä. verzichten
verwendet (2013a, 2013b).
Auch die in diesem Zusammenhang seit den 2010er Jahren aus dem Englischen entlehnte Wortverbindung Digital Detox (vgl. lexico.com unter digital detox und Duden online unter Detox) bezieht sich auf individuelle Entnetzungspraktiken und -strategien der Nichtnutzung von digitalen Medien (2014c, 2021). Das Wort Detox kann mit Entgiftung
übersetzt werden (vgl. 3OED unter detox, n.); das englische Substantiv detox ist eine Kürzung von detoxification bzw. detoxicate) und wird zuerst im Ernährungsbereich bekannt. Detox meint hier den Körper vor schädlichen Substanzen befreien
. Entsprechend bezeichnet Digital Detox den Verzicht auf alles Digitale, um sich – jedenfalls temporär und partiell – vor den als schädlich wahrgenommenen Einflüssen der digitalen Vernetzung, vor Reizüberflutung und Überlastung zu schützen.
Anmerkungen
1) Vgl. die Abbildung des „Ballon Captif“ aus dem Jahr 1873 (s. „Wiener Weltausstellung 1873“).
2) In den letzten Jahren haben besonders die Studien des Soziologen Urs Stäheli Beachtung gefunden (vgl. Stäheli 2013, Stäheli 2021; vgl. auch Zurstiege 2019). Stäheli diskutiert die Begrifflichkeiten des Entnetzungs-Diskurses und setzt sich mit den individuellen und gesellschaftlichen Problemen sowie Sicherheitsrisiken aufgrund von übersteigerter Vernetzung (Übervernetzung) auseinander.
3) Vgl. Fleischer/Barz 2012, 309, 386.
Literatur
Duden online Duden online. Hrsg. von der Dudenredaktion. Mannheim 2011 ff. (duden.de)
DWDS DWDS. Der deutsche Wortschatz von 1600 bis heute. (dwds.de)
FAZ 1979a K., J.: Wie alles mit allem zusammenhängt. Eine Ausstellung über „unsere Welt“. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 6. 3. 1979, S. 24.
Fleischer/Barz 2012 Fleischer, Wolfgang/Irmhild Barz: Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache. 4., völlig neu bearbeitete Aufl. unter Mitarbeit von Marianne Schröder. Berlin/Boston 2012.
Koch 2010 Koch, Christoph: Ich bin dann mal offline: Ein Selbstversuch. Leben ohne Internet und Handy. München 2010.
lexico.com lexico.com. Oxford English and Spanish Dictionary, Thesaurus, and Spanish to English Translator. Oxford University Press (OUP). (lexico.com)
3OED Oxford English Dictionary. The Definite Record of the English Language. Kontinuierlich erweiterte digitale Ausgabe auf der Grundlage von: The Oxford English Dictionary. Second Edition, prepared by J. A. Simpson and E. S. C. Weiner, Oxford 1989, Bd. 1–20. (oed.com)
Stäheli 2013 Stäheli, Urs: Entnetzt Euch! Praktiken und Ästhetiken der Anschlusslosigkeit. In: Mittelweg 36. Zeitschrift des Hamburger Instituts für Sozialforschung 22/4 (2013), S. 3–28. (e-bookshelf.de)
Stäheli 2021 Stäheli, Urs: Soziologie der Entnetzung. Berlin 2021.
Stieler Stieler, Kaspar von: Der Teutschen Sprache Stammbaum und Fortwachs oder Teutscher Sprachschatz/ Worinnen alle und iede teutsche Wurzeln oder Stammwörter/ so viel deren annoch bekant und ietzo im Gebrauch seyn/ nebst ihrer Ankunft/ abgeleiteten/ duppelungen/ und vornemsten Redarten/ mit guter lateinischen Tolmetschung und kunstgegründeten Anmerkungen befindlich. […] Nürnberg 1691. (mdz-nbn-resolving.de)
Vester 1978 Vester, Frederic: Unsere Welt, ein vernetztes System: eine internationale Wanderausstellung. [Bildband, Ausstellungskatalog]. Stuttgart 1978.
Vester 1999 Vester, Frederic: Die Kunst, vernetzt zu denken: Ideen und Werkzeuge für einen neuen Umgang mit Komplexität. Stuttgart 1999.
Wikipedia Wikipedia – Die freie Enzyklopädie. (wikipedia.org)
Wulf 2016 Wulf, Andrea: Alexander von Humboldt und die Erfindung der Natur. 9. Aufl. München 2016.
Zurstiege 2019 Zurstiege, Guido: Taktiken der Entnetzung: die Sehnsucht nach Stille im digitalen Zeitalter. Berlin 2019.