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Pluralwahlrecht Pluralstimme · Pluralwahl · Pluralwähler

Politik & Gesellschaft

Kurz gefasst

Das Kompositum Pluralwahlrecht begegnet seit den 1890er Jahren im Deutschen. Es bezeichnet ein Wahlrecht, nach dem Angehörige bevorzugter gesellschaftlicher Gruppen (im Gegensatz zur Masse der wahlberechtigten Bevölkerung) zwei oder mehr Stimmen pro Person haben. Das Substantiv ist rund um den ersten Weltkrieg besonders verbreitet. Zum semantischen Feld gehören zu dieser Zeit die Wortbildungen Pluralwahl Wahl nach Pluralwahlsystem und Pluralstimme zusätzliche Stimme gemäß Pluralwahlrecht. Pluralwähler trägt die Bedeutung Wähler, der in mehreren Wahlbezirken wahlberechtigt ist. Gegenwärtig begegnet Pluralwahlrecht selten auch im Kontext von Diskussionen um ein Familienwahlrecht.

Wortgeschichte

Pluralwahlrecht: Ein Kompositum der Jahrhundertwende

Das heute wenig verbreitete Substantiv Pluralwahlrecht bezeichnet ein Wahlrecht, nach dem Angehörige bevorzugter gesellschaftlicher Gruppen (im Gegensatz zur Masse der wahlberechtigten Bevölkerung) zwei oder mehr Stimmen pro Person haben (1907, 1911a; vgl. DWDS unter PluralwahlrechtDWDS). Das Kompositum setzt sich aus dem Adjektiv pluralWGd in seiner numerischen Bedeutung aus mehreren bestehend sowie Wahlrecht zusammen. Es ist im deutschsprachigen Raum seit den 1890er Jahren belegt (1896). Seltener ist die Verdeutschung Mehrstimmenwahlrecht nachweisbar (1928, 1933).

Pluralwahlrecht ist – mit Bezeugungsspitzen kurz vor und kurz nach dem Ersten Weltkrieg – vor allem in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts belegt (vgl. die entsprechende Wortverlaufskurve des Google NGram Viewers). Hintergrund der vermehrten Verwendungen werden entsprechende Wahlrechte zu dieser Zeit gewesen sein, so in Belgien ab 1893, aber beispielsweise auch in Sachsen oder Elsass-Lothringen. Jedenfalls begegnen Verwendungen in Bezug hierauf (1912a, 1911b). Daneben begegnet Pluralwahlrecht zu dieser Zeit in Hinblick auf Wahlrechtsreformen bzw. in Wahlrechtsdebatten (1906) sowie in der Diskussion um das Frauenwahlrecht (1909, 1917a).

Es ist anzunehmen, dass der Bezeugungsrückgang im deutschsprachigen Raum nach 1918 auch eine Folge der Einführung der gleichen Wahl in der Weimarer Demokratie ist. Gegenwärtige Verwendungen begegnen überwiegend in Bezug auf das Pluralwahlrecht als historische Wahlform (1971, 2019). Daneben stehen jünger selten auch gegenwartsbezogene Verwendungen im Kontext einer kritischen Diskussion um ein Familienwahlrecht, in dem Eltern eine Stimme für ihre noch nicht wahlberechtigten Kinder zugebilligt wird (2005, 2017).

PluralwahlPluralstimmePluralwähler. Wortfamilie

Zum semantischen Feld um Pluralwahlrecht gehören die Komposita Pluralwahl Wahl gemäß Pluralwahlrecht (1910, 1912b) sowie Pluralstimme zusätzliche Stimme gemäß Pluralwahlrecht (1911c, 1917b). Auch diese Bildungen haben Verwendungsspitzen um den Ersten Weltkrieg herum (vgl. die entsprechende Wortverlaufskurve des Google NGram Viewers), sind insgesamt aber noch seltener bezeugt als Pluralwahlrecht.

Pluralwähler trägt die Bedeutung Wähler, der in mehreren Wahlbezirken wahlberechtigt ist (1891, 1912c) und bezieht sich damit auf einen spezifischen Aspekt, der zur Generierung von Mehrfachstimmenabgabe führt (Wohnsitz bzw. Besitz). Selten begegnet auch Pluralwahlrecht in Bezug auf ein Wahlrecht, in dem Wähler aufgrund verschiedener Wohnsitze mehrere Stimmen abgeben können (1913).

Literatur

DWDS DWDS. Der deutsche Wortschatz von 1600 bis heute. (dwds.de)

Belegauswahl

Die genaue Zahl ist 6161456, darunter sind aber eine ganze Anzahl „Pluralwähler,“ daß heißt Leute, die an zwei oder mehr verschiedenen Orten das Wahlrecht haben. Zum Beispiel Kaufleute, die in der City als Mitglieder einer „Gilde“ und in irgend inem Villendistrikt als Hausbewohner das Wahlrecht haben etc.

Die Neue Zeit X/II/39 (1891–92), S. 390. (books.google.de)

Viel geringer ist das Gewicht der Bedenken, welche sich der Einführung eines Plural-Wahlrechts entgegenstellen […].

Deutsche Juristen-Zeitung 1, 1. 1. 1896, Nr. 1, S. 5. (books.google.de)

Zur Wahlrechtsdiskuſſion in Oberöſterreich.

Abg. Etz ſetzt in ſeinem Organe die Propaganda für das Pluralwahlrecht fort und zwar zitiert er zunächſt neuerdings aus einer veralteten Auflage des Staatslexikons der Görresgeſellſchaft.

Reichspost, 18. 9. 1906, Nr. 212, S. 2. (deutschestextarchiv.de)

Der Reichskanzler, nein der Ministerpräsident, hat mit verschiedenen Politikern nicht Verhandlungen, sondern Unterhaltungen gepflegt über eine künftige Wahlreform, die er im Winter ankündigen, im nächsten Landtag effektuieren will, und die ungefähr (so dachte er vor ein paar Wochen, und schwerlich denkt er darüber anders) auf folgender Grundlage beruhen soll: geheimes, direktes Wahlrecht mit Pluralwahlrecht für Besitz, Bildung und (vielleicht auch Alter), keine Neueinteilung der Wahlkreise, Sondervertretung der Kammern – mit Bevorzugung der agrarischen.

Die Neue Gesellschaft, 14. 8. 1907, S. 223. [DWDS]

Das Pluralwahlrecht bedeutet keine Verbesserung des bestehenden Zustandes, und für die Frauen – falls es auf diese ausgedehnt werden sollte, würde es eine besondere Schädigung bedeuten.

Breitscheid, Tony: Die Notwendigkeit der Forderung des allgemeinen, gleichen, direkten, geheimen Wahlrechts. In: Schriften des Preußischen Landesvereins für Frauenstimmrecht, Bd. 4. Berlin 1909, S. 8. (deutschestextarchiv.de)

Neueinteilung der Wahlkreise und geheime Wahl, das waren neben Pluralwahl und direkter Wahl von da ab Programmforderungen der Partei.

Die Grenzboten 69/1 (1910). (deutschestextarchiv.de)

Im Jahre 1896 wurde das indirekte Wahlverfahren eingeführt, welches im Jahre 1909 geändert werden. Es besteht jetzt ein geheimes, direktes Pluralwahlrecht mit 1 bis 4 Stimmen für den Wähler.

Kleefeld, Kurt: Bürgerkunde des Hansa-Bundes. Berlin 1911. [Faksimile Nr. 273] [DWDS] (gei.de)

Die Einführung eines Pluralwahlrechts in Elsaß-Lothringen hätte dem Versuch der Verschlechterung des bestehenden Reichstagswahlrechts ebenso die Wege ebnen können, wie die Einführung des gleichen Wahlrechts uns im preußischen Wahlrechtskampf sicher ein großes Stück vorwärts gebracht hat.

Die Grenzboten 70/3 (1911). (deutschestextarchiv.de)

Es soll jeder Wahlberechtigte mit Vollendung des 35. Lebensjahrs eine zweite, mit Vollendung des 45. eine dritte Stimme bekommen. Diese Pluralstimmen sind von nicht zu unterschätzender Bedeutung.

[N. N.]: Verhandlungen des Reichstages. Berlin, 1911, S. 318. [DWDS] (digitale-sammlungen.de)

Ein anderer Wahlrechtsmodus, für den nationalliberale Elemente vielfach eintreten und der z. B. im Königreich Sachsen seit 1909 das Dreiklassenwahlrecht abgelöst hat, ist das Pluralwahlrecht.

Kirchhoff, Auguste: Warum muß der Deutsche Verband für Frauenstimmrecht sich zum allgemeinen, gleichen, geheimen und direkten Wahlrecht bekennen? Bremen 1912, S. 19. (deutschestextarchiv.de)

Das ist das System der sog. Pluralwahl, das z. B. 1893 in Belgien eingeführt worden ist.

Bernheim, Ernst; Herre, Paul: Staatsbürgerkunde. Leipzig, 1912. [Faksimile Nr. 33] [DWDS] (gei.de)

Aber sie erklärt es für unmöglich, die genaue Zahl der Pluralwähler festzustellen, weil dazu nötig wäre, hinsichtlich eines jeden einzelnen der 7900000 Wähler zu untersuchen, in wie vielen Wahlkreisregistern er aufgenommen ist.

Die Grenzboten 71/1 (1912). (deutschestextarchiv.de)

Vorher noch wird die Stimmrechtsreform zur Erledigung kommen. Durch sie soll das bestehende Pluralwahlrecht abgeschafft werden, d. h. die Möglichkeit bei-mehreren [sic] Wohnsitzen oder Geschäftsräumen von bestimmter Mietshöhe in verschiedenen Wahlkreisen abstimmen zu können.

Die Grenzboten 72/1 (1913). (deutschestextarchiv.de)

Und auch beim Pluralwahlrecht würde bei der verhältnismäßig geringen Anzahl studierter Frauen das Ergebnis im wesentlichen starke Benachteiligung der Frau im Verhältnis zum Manne und der Lohnarbeiterin gegenüber der besitzenden Frau sein.

Kirchhoff, Auguste: Frauenrechte – Volksrechte. Berlin 1917, S. 9. (deutschestextarchiv.de)

Ein Pluralwahlrecht ist ein bewegliches, vorwärtstreibendes Element; eine Pluralstimme kann man zu erwerben und zu erringen suchen […]und so durch eigene Leistung, nicht nur durch einen Wahlzettel, sich eine erhöhte Geltung im politischen Leben sichern, ohne gezwungen zu sein, auf die gegenwärtigen Parteidogmen zu schwören; schließlich kann das System der Zuteilung von solchen in größeren Zeitabschnitten abgeändert werden, wie wir ja auch dauernd neue Gesetze machen.

Die Grenzboten 76/2 (1917). (deutschestextarchiv.de)

Er hat damals die Abänderung des Wahlrechts in der Richtung eines Mehrstimmenwahlrechts empfohlen.

[N. N.]: Verhandlungen des Reichstages. Berlin, 1928, S. 938. [DWDS] (digitale-sammlungen.de)

Der Reichstag lehnt insbesondere den von der Reichsregierung geplanten Wahlrechtsraub gegenüber den jugendlichen Wählern von 20 bis 25 Jahren ab; desgleichen jeden Versuch, durch Einführung eines Mehrstimmenwahlrechts (Pluralwahlrechts) die Werktätigen, insbesondere die Erwerbslosen, ihres Wahlrechts indirekt zu berauben.

[N. N.]: Verhandlungen des Reichstages. Berlin, 1933, S. 398. [DWDS] (digitale-sammlungen.de)

Das Plural- oder Mehrstimmenwahlrecht ist heute ganz in Vergessenheit geraten, obwohl es die Gemüter einmal sehr bewegt hat. Es ist in Belgien von 1893–1919 und im Königreich Sachsen von 1909–1918 eingeführt gewesen […].

Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 23/2 (1971), S. 117.

Es geht keineswegs um ein Kinderwahlrecht, sondern um ein Mehrfachstimmrecht für Eltern, also um ein Pluralwahlrecht.

Protokoll der Sitzung des Parlaments Deutscher Bundestag am 2. 6. 2005. 178. Sitzung der 15. Wahlperiode 2002–2005. Plenarprotokoll. [IDS]

Für Eltern könne es bunte Wahlzettel in der Wahlkabine geben: zum Beispiel einen blauen für die eigene Stimme, einen gelben (mit halber Stimme) für das Kind. Kritiker wenden ein, dann hätten wir ein Pluralwahlrecht, Eltern hätten mehrere Stimmen.

Nürnberger Nachrichten, 20. 9. 2017, S. 3 [IDS]

Aber während anderthalb Jahren des Taktierens versuchten Preußens konservative Eliten, durch Extrastimmen für Ältere und Gebildete (Pluralwahlrecht) das Reichstagswahlrecht für Preußen zu vermeiden sowie mit einer berufsständischen Zweiten Kammer einzuhegen.

Spenkuch, Hartwin: Preußen – eine besondere Geschichte. Staat, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur 1648–1947. Göttingen 2019, S. 226.