Wortgeschichte
Lehnübersetzungen und weitere Wortbildungen
Das Adjektiv unterprivilegiert wird Mitte des 20. Jahrhunderts aus dem Englischen underprivileged entlehnt (vgl. Anglizismen-Wb. 3, 1634). Das Wort underprivileged wurde vermutlich Ende des 19. Jahrhunderts in den Vereinigten Staaten geprägt (1896, vgl. 3OED unter underprivileged). Es ist eine Zusammensetzung aus dem Präfix under unter, weniger als
und dem Adjektiv privileged, mit welchem sich auf einen besonderen Vorteil oder eine Vergünstigung für eine bestimmte Gruppe von Menschen bezogen wird. Die Konversion in das Substantiv underprivileged findet auch in der Lehnübersetzung Unterprivilegierter Eingang ins Deutsche (vgl. Anglizismen-Wb. 3, 1634). Die Entsprechung für das Substantiv underprivileged der Zustand, unterprivilegiert zu sein; Mangel an dem, was als normale Annehmlichkeiten des Lebens angesehen wird
(vgl. 3OED unter underprivileged) wird im Deutschen als Ableitung mit dem Affix -heit oder dem Derivat -ung gebildet. Im Gegensatz zu unterprivilegiert und Unterprivilegierter sind Unterprivilegiertheit sowie Unterprivilegierung allerdings wenig gebräuchlich (s. Abb. 1).
Sozialpolitisches Bedeutungsspektrum
Mit dem Adjektiv unterprivilegiert werden insbesondere zu Bezeugungsbeginn Mitte des 20. Jahrhunderts Personen und Gruppen beschrieben, die keinen Zugang zu bestimmten gesellschaftlichen Privilegien wie Bildung, Gesundheitsversorgung oder finanziellen Ressourcen haben (1957a, 1975). Als Bedeutung kann dementsprechend nicht oder nur eingeschränkt an Rechten, Privilegien, Vorteilen in sozialer oder ökonomischer Hinsicht teilhabend
angegeben werden. Das Wort findet zudem mit Bezug auf sozialpolitische Maßnahmen und Programme, die auf die Bedürfnisse derjenigen gerichtet sind, die als unterprivilegiert gelten, Anwendung (1973, 2005); privilegiertWGd tritt als Antonym zu unterprivilegiert auf (1957b, 2011).
Im Laufe der Zeit wird die Verwendung von unterprivilegiert weiter gefasst; sie bezieht sich auf Personen, Gruppen oder Sachverhalte, für die eine soziale, wirtschaftliche oder politische Benachteiligung festzustellen ist (1970, 2016). Das Wort wird zudem in Untersuchungen über soziale Gerechtigkeit und Ungleichheit verwendet und als bildungssprachlich angesehen (vgl. Duden online unter unterprivilegiert). Jünger werden benachteiligt oder unterdrückt synonym verwendet (2000, 2002).
Die Wortfamilie zu unterprivilegiert
Mit dem Substantiv Unterprivilegierter wird eine Person beschrieben, die aufgrund ihrer sozialen, wirtschaftlichen oder politischen Situation benachteiligt ist und nicht über die gleichen Ressourcen, Chancen oder Vorteile verfügt wie andere in der Gesellschaft. Zu den Formen der Benachteiligung werden Armut, mangelnder Zugang zu Bildung, Gesundheitsversorgung, Diskriminierung aufgrund von Rasse und Geschlecht u. a. gezählt (1971, 1998, 2006). Meist ist der Plural Unterprivilegierte gebräuchlich (1957c).
Die Wortbildungen Unterprivilegiertheit und Unterprivilegierung nehmen auf den Zustand der Benachteiligung oder des Mangels einer Person oder Gruppe an Chancen oder Vorteilen der Gesellschaft Bezug. Die Belege zeigen, dass die Wortverwendung eine Form sozialer Ungleichheit impliziert, die durch strukturelle Diskriminierung, Vorurteile und Ungleichheit in der Verteilung von Ressourcen verursacht wird (1957d, 1976, 1999, 2004).
Literatur
Anglizismen-Wb. Anglizismen-Wörterbuch. Der Einfluß des Englischen auf den deutschen Wortschatz nach 1945, begründet von Broder Carstensen, fortgeführt von Ulrich Busse. Bd. 1–3. Berlin/New York 1993–1996.
Duden online Duden online. Hrsg. von der Dudenredaktion. Mannheim 2011 ff. (duden.de)
3OED Oxford English Dictionary. The Definite Record of the English Language. Kontinuierlich erweiterte digitale Ausgabe auf der Grundlage von: The Oxford English Dictionary. Second Edition, prepared by J. A. Simpson and E. S. C. Weiner, Oxford 1989, Bd. 1–20. (oed.com)
Belegauswahl
Barnes, James: A Princetonian. A story of undergraduate life at the College of New Jersey. New York 1896, S. 380.It was very quiet in the little square that was filled with nurse-maids and children moving about inside the railings—several little underprivileged ones peering in at them from the outside.
Die Zeit, 12. 9. 1957, Nr. 37. [DWDS] (zeit.de)So spricht er von „seinen“ Arbeitern und glaubt, daß diese trotz der umwälzenden Verbesserung ihrer finanziellen und gesellschaftlichen Stellung während der letzten zwanzig Jahre noch immer „unterprivilegiert“ seien.
Schelsky, Helmut: Die skeptische Generation. Düsseldorf 1957, S. 209. [DWDS]Zu einer fast gleichen Bestimmung der »Unterprivilegiertheit« kommt auch Burkart Lutz […] in Abhebung von den »privilegierten« Gruppen der Belegschaft sieht er »die Situation dieser unterprivilegierten Gruppen … einerseits gekennzeichnet durch ein hohes Maß an physischer Arbeitsbelastung […] und andererseits durch eine relativ niedrige Entlohnung.
Schelsky, Helmut: Die skeptische Generation. Düsseldorf 1957, S. 209. [DWDS]Den Anteil dieser »Unterprivilegierten« an der Belegschaft schätzt Lutz auf 10%, teilweise sogar bis 20%; Angaben über den Anteil der Jugendlichen daran sind nicht im Material vorhanden.
Schelsky, Helmut: Die skeptische Generation. Düsseldorf 1957, S. 206. [DWDS]Eine strukturanaloge Situation liegt aber bereits auch für eine Gruppe der berufstätigen Jugendlichen innerhalb der Industrie und gewerblichen Wirtschaft selbst vor, nur daß hier die verschiedenen Phasen des Industrialisierungsprozesses selbst spannungsreich aufeinanderstoßen […] und ein Gefühl der sozialen Unterprivilegiertheit bei den Jugendlichen erzeugen.
Die Zeit, 3. 4. 1970, Nr. 14. [DWDS] (zeit.de)Jetzt hat Zacher zum 1. April einen Ruf an die Essener Folkwangschule als Leiter des Instituts für Evangelische Kirchenmusik angenommen, wird er, zu einer Zeit, […] da eine Theologie der Revolution gepredigt wird und junge Menschen Beat statt Choräle wollen, wird er also junge Musiker ausbilden für einen sozial unterprivilegierten Beruf ohne viele Chancen eines Aufstiegs.
Die Zeit, 17. 9. 1971, Nr. 38. [DWDS] (zeit.de)Angesichts wachsender Unzufriedenheit und der unüberhörbaren Proteste der Unterprivilegierten bekannte Golda Meir: „Ich habe Armut in meiner Kindheit kennengelernt.“
Neues Deutschland, 14. 9. 1973. [DWDS][…]Die chilenische Entwicklung sei Ja erster Linie eine Tragödie des Präsidenten Allende, dem niemand absprechen kann, das Beste gewollt zu haben„, bemerkt die„ Süddeutsche Zeitung “. „Er hatte sein Amt angetreten im Auftrag der unterprivilegierten Klassen, deren soziale Lage zu bessern und ihnen einen gebührenden Einfluß in der Wirtschaft und Im Staate einzuräumen… Die demokratischen Freiheiten wurden nicht angetastet, die Verfassung gewahrt.
N. N.: Fortgang der Ereignisse in und um Cypern; Denktasch proklamiert für den Nordteil „Türkischcypriotischen Föderationsstaat“; Tagung und Resolution des UNO-Sicherheitsrats. In: Archiv der Gegenwart, Bd. 45, 14. 3. 1975, S. 19310 ff. [DWDS]Ohne die militärische Präsenz der Türkei würde die türkische Volksgruppe auf der Insel [Zypern; N.M.] binnen kurzem wieder auf den Status einer unterprivilegierten und von der Regierungsbeteiligung weitgehend ausgeschlossenen Minderheit herabgedrückt werden.
Die Zeit, 27. 8. 1976, Nr. 36. [DWDS] (zeit.de)Vorurteile, Mißtrauen, Überheblichkeit, Intoleranz, Diskriminierung und Unterprivilegierung sind Signale für eine völlige Unkenntnis fremder Kulturen und Gesellschaften, Hieraus resultiert unreflektiertes, weil unbewußtes Verhalten.
Der Tagesspiegel, 11. 2. 1998. [DWDS]Denn das Briefträgerimperium, das er mithilfe einer Truppe von Kindern, Frauen, Schwarzen und anderen Unterprivilegierten aufbaut, erweist sich als einzige schlagkräftige Widerstandsgruppe gegen den blutigen Unterdrücker.
Berliner Zeitung, 9. 9. 1999. [DWDS]Als Beispiel für diese Zerrissenheit nennt er etwa die Aufregung, die vor hundert Jahren der Umzug Gerhart Hauptmanns vom östlichen Stadtrand in die Nähe des Kurfürstendamms auslöste, dem Vorwurf der Flucht aus der Unterprivilegiertheit in die Eleganz und Wohlhabenheit.
Hämmig, Oliver: Zwischen zwei Kulturen: Spannungen Konflikte und ihre Bewältigung bei der zweiten Ausländergeneration. Wiesbaden 2000, S. 158. (books.google.de)Der Begriff Deprivation entstammt dem lateinischen Ausdruck für „Beraubung“ und bezeichnet in den Sozialwissenschaften […] das häufig beobachtete Phänomen, dass sich Individuen und soziale Gruppen im Statuswettbewerb gegenüber anderen (Individuen oder Bezugsgruppen) benachteiligt und unterprivilegiert fühlen.
Der Tagesspiegel, 17. 7. 2002. [DWDS]Frauen, so Bierach, sind weder unterprivilegiert noch unterdrückt, sondern verhalten sich schlicht „saublöd“, sie lesen das Falsche, sind stutenbissig und solidarisieren sich nicht untereinander.
Der Tagesspiegel, 28. 11. 2004. [DWDS]Museen waren Tempel – und in nichts den heutigen Publikumsmagneten zu vergleichen, die alle Anstrengungen unternehmen, möglichst weite Teile der Bevölkerung zu erreichen. Genau das aber erstrebte Barnes: Bildung als Weg aus der Unterprivilegierung der breiten Massen. […]Der Arzt suchte in der Kunst nicht den Ausweis von Status, sondern die Möglichkeit sinnlich vermittelter Bildung.
Berliner Zeitung, 18. 11. 2005. [DWDS]Gleichwohl hat das Land die zweitbesten Pisa-Ergebnisse. Was die Förderung unterprivilegierter Gruppen angeht, gibt es in Berlin einen höheren Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Schulerfolg als in Bayern.
Die Zeit, 13. 7. 2006, Nr. 29. [DWDS] (zeit.de)Die Ablehnung des verteilenden Sozialwesens zugunsten von Investitionen in Zukunftschancen spiegelt sich in der Struktur von Carnegies Stiftungen – und findet sich gut hundert Jahre später bei Gates in der Konzentration auf Bildung und Medizin für Unterprivilegierte wieder.
Die Zeit, 29. 4. 2011, Nr. 18. [DWDS] (zeit.de)Talent und harte Arbeit sollten jedem den sozialen Aufstieg ermöglichen. Mit keinem Wort wurde jedoch erwähnt, dass der soziale Aufstieg talentierter, aber unterprivilegierter Kinder zwangsläufig auf Kosten weniger talentierter, aber dafür privilegierter Kinder ginge.
Die Zeit, 15. 12. 2016, Nr. 50. [DWDS] (zeit.de)Und gäbe es eine politische Figur, die mehr Strahlkraft hätte als Robin Hood? Spricht sie doch jeden an, der sich irgendwie ausgegrenzt, unterprivilegiert oder wütend fühlt – und das sind heute sehr viele Menschen.