Wortgeschichte
Stigmatisieren. Herkunft und frühe Bezeugungen
Das Verb stigmatisieren ist im Deutschen seit dem 16. Jahrhundert belegt (1555b). Etymologisch ist es über mittellateinisch stigmatizare mit den Wundmalen Christi zeichnen
auf spätlateinisch stigmāre brandmarken
bzw. griechisch stigmatízein punktieren, brandmarken
zurückzuführen (Pfeifer unter stigmatisierenDWDS). Entsprechend begegnet stigmatisieren in deutschsprachigen Quellen zunächst in der Bedeutung mit den fünf Wundmalen Christi zeichnen
(1555b, 1614). Diese Lesart ist bis heute belegt (1854, 1950, 1978a). Daneben tritt die Bedeutung (aus kultischen bzw. rituellen Gründen) Wundmale, Narben beibringen
, die Pfeifer für das 18. Jahrhundert ansetzt (1789; vgl. Pfeifer unter stigmatisierenDWDS; vgl. jedoch schon 1575, wo stigmatisieren bereits in einem allgemeineren Sinn begegnet).
Abb. 1: DWDS Wortverlaufskurve zu stigmatisieren
DWDS (dwds.de) | Bildzitat (§ 51 UrhG)
Insgesamt bleibt das Verb bis ins 19. Jahrhundert hinein wenig verbreitet (vgl. Abb. 1 sowie die entsprechende Wortverlaufskurve des Google NGram Viewers).
Übertragene Verwendungen und Bezeugungsanstieg des Verbs
Seit dem 19. Jahrhundert wird stigmatisieren auch übertragen verwendet (1848, 1868, 1893), es entsteht die neue Lesart etwas/jemanden aufgrund bestimmter Merkmale abwerten und/oder ausgrenzen
(1900, 1909, 1913b). Bei dieser Bedeutungsentwicklung ist wohl von einem metaphorischen Wandel auszugehen insofern jemand, der stigmatisiert wird, im übertragenen Sinne mit Zeichen bzw. Merkmalen belegt wird, die zu seiner gesellschaftlichen Ausgrenzung führen. Verwendungen in der übertragenen Lesart sind bis in die Gegenwart bezeugt (1952, 1960, 1998, 2000). Es begegnen im Übrigen auch Verwendungen, in denen beide Lesarten zusammenfallen, jemand mithin ausgegrenzt und mit einem sichtbaren Zeichen versehen wird (1978b, 1981).
Abb. 2: DWDS Wortverlaufskurve zu stigmatisieren und Stigmatisierung
DWDS (dwds.de) | Bildzitat (§ 51 UrhG)
In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts begegnet stigmatisieren in der übertragenen Verwendung häufiger in Zusammenhang mit gesellschaftlichen RandgruppenWGd bzw. Marginalisierten (1976, 1984, 1985, 1986, 2010). Zudem steigt die Verwendungsfrequenz nun signifikant an (vgl. Abb. 2 ). Es sind wohl vornehmlich Verwendungen in der übertragenen und auf die Gesellschaft bezogenen Lesart, vor deren Hintergrund dieser Bezeugungsanstieg zu verorten ist – dafür spricht auch, dass das Substantiv Stigmatisation, das diese Bedeutung nicht annimmt, keinen Bezeugungsanstieg hat (s. u.).
Das Substantiv Stigma. Herkunft und Bedeutungsspektrum
Neben dem Verb stigmatisieren sind mit Stigma, Stigmatisation sowie Stigmatisierung drei Substantive bezeugt, die zur Wortfamilie gehören. Stigma ist etymologisch auf lateinisch stigma zurückzuführen, das seinerseits aus dem griechischen stígma Stich, Brandmal, Malzeichen, Kennzeichen
zu griechisch stízein stechen, punkten, tätowieren, brandmarken
hervorgegangen ist (vgl. Pfeifer unter StigmaDWDS). In deutschsprachigen Quellen wird Stigma zunächst als Bestandteil einer lateinischen Phrase verwendet (1533). Bezeugungen als deutsches Lehnwort (1671) lassen sich dem 1DFWB und Pfeifer zufolge auf das beginnende 17. Jahrhundert datieren (1DFWB 4, 456–458 sowie Pfeifer unter StigmaDWDS).
Stigma ist in dem Verb entsprechenden Lesarten bezeugt, genauer zunächst in der Bedeutung Brandmal, Wundmal
(1673) sowie Wundmal Christi
(1803, 2002). Ab dem 19. Jahrhundert wird auch das Substantiv übertragen in der Lesart Merkmal, Kennzeichen, durch das etwas oder jemand gekennzeichnet bzw. abgewertet ist und das zur Unterscheidung bzw. sozialen Ausgrenzung beiträgt
verwendet (1865). Diese Lesart ist bis heute stabil (1913a, 1957, 2017).
Daneben stehen Verwendungen in der Fachsprache der Medizin, in der Stigma augen-fälliges Merkmal, Anzeichen einer Krankheit, sichtbare krankhafte (degenerative) Veränderung
(1907) bedeutet, sowie in der Fachsprache der Biologie, in der das Wort für Kopfteil des Blütenstempels, Narbe
, Augenfleck der Eizeller
sowie Atemöffnung bei Insekten
steht (vgl. nur 1764, 1814; siehe auch 1DFWB 4, 456–458 und Lexikon der Biologie Online [online]).
Stigmatisierung – Stigmatisation. Die vom Verb abgeleiteten Substantive
Das vom Verb abgeleitete Substantiv Stigmatisierung ist jüngeren Datums: In den Quellen begegnet es erst seit der Wende zum 19. Jahrhundert (1798). Es trägt zentral die Bedeutungen Vorgang, etwas oder jemanden mit einem Brand-, Wundmal versehen
(1921) sowie übertragen Vorgang, etwas oder jemanden mit einem Kennzeichen, Merkmal versehen; Ausgrenzung
(1972). Ab den 1960er Jahren und damit zeitgleich zur weiteren Verbreitung des Verbs steigt auch die Verwendungsfrequenz von Stigmatisierung deutlich (vgl. Abb. 2 ).
Neben Stigmatisierung ist zudem Stigmatisation belegt. Es begegnet mindestens schon im 16. Jahrhundert (1555a, 1852) und wird möglicherweise zunächst als gegenüber Stigmatisierung primäre Form wahrgenommen, jedenfalls bucht Heyse es 1838 in seinem Fremdwörterbuch in der Bedeutung Bezeichnung mit Wundenmaalen, Brandmarkung
zu Stigma; Stigmatisierung wird dahingegen nicht aufgenommen (8Heyse Fremdwörterbuch 2, 449). Stigmatisation ist zwar bis in die Gegenwart belegt (2014), nimmt anders als Stigmatisierung aber nicht die übertragene Bedeutung an, sondern trägt bis heute lediglich die Lesarten Brandmal, Brandmarkung, Wundmal
(1992) sowie in der Medizin das Auftreten von Hautblutungen und anderen psychogen bedingten Veränderungen
(vgl. DWDS unter StigmatisatonDWDS).
Literatur
Lexikon der Biologie Online Sauermost, Rolf (Projektleitung): Lexikon der Biologie. Online Ausgabe, Heidelberg 1999-. (spektrum.de)
1DFWB Schulz, Hans/Otto Basler: Deutsches Fremdwörterbuch. Weitergeführt im Institut für deutsche Sprache unter der Leitung von Alan Kirkness. Bd. 1–7. Straßburg bzw. Berlin 1913–1988. (owid.de)
DWDS DWDS. Der deutsche Wortschatz von 1600 bis heute. (dwds.de)
8Heyse Fremdwörterbuch Heyse, Johann Christian August: Allgemeines verdeutschendes und erklärendes Fremdwörterbuch, oder Handbuch zum Verstehen und Vermeiden der in unserer Sprache mehr oder minder gebräuchlichen fremden Ausdrücke mit Bezeichnung der Aussprache, der Betonung und der Abstammung. Achte rechtmäßige, vermehrte und sehr verbesserte Ausgabe. Bd. 1–2. Hannover 1838.
Pfeifer Pfeifer, Wolfgang u. a.: Etymologisches Wörterbuch des Deutschen (1993), digitalisierte und von Wolfgang Pfeifer überarbeitete Version im Digitalen Wörterbuch der deutschen Sprache. (dwds.de)
Weitere wortgeschichtliche Literatur zu Stigma, stigmatisieren, Stigmatisation, Stigmatisierung.