Wortgeschichte
Bildung am Beginn des 19. Jahrhunderts
Das Substantiv Zeitenwende, ein Kompositum aus den deutlich älteren Wörtern Zeit und WendeWGd, ist seit den 20er Jahren des 19. Jahrhunderts belegt (1822a), in der heute weniger verbreiteten Formvariante Zeitwende etwas früher (1814). Seither trägt das Wort zentral die Bedeutung tiefgreifende Zäsur in der (Zeit-)Geschichte, die einen ganzen Kulturraum oder die ganze Welt betrifft
(1835b, 1844, 1918).
Es ist wohl kein Zufall, dass Zeitwende bzw. Zeitenwende am Beginn des 19. Jahrhunderts gebildet wird. So kann mit der entsprechenden geschichts- und kulturwissenschaftlichen Forschung angenommen werden, dass sich eine neuartige Vorstellung von Zukunft als eines einheitlichen geschichtlichen Zeitraums, in dem Zukunft als potentiell ergebnisoffen und gestaltbar erfahrbar wird, erst im Laufe des 17. und 18. Jahrhunderts ausbildet. Erst vor diesem Hintergrund werden dann, so die These, um 1800 auch Vorstellungen von plötzlichen und tiefgreifenden Brüchen innerhalb dieses Prozesses möglich.
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Auf der Grundlage der Annahme, dass Zukunftsvorstellungen kulturelle Konstruktionen (vgl. Assmann 1999, etwa 1, Assmann 2013, hier insb. die Einleitung, sowie Handbuch Kulturwissenschaften 1, 401–416), mithin historisch spezifische Denkformen sind (Hölscher 2016, 12), kann in wissensgeschichtlicher Perspektive die These aufgestellt werden, dass die Ausbildung einer neuartigen Zukunftsvorstellung um 1800 zur epistemischen Voraussetzung der beschriebenen wortgeschichtlichen Entwicklungen wird. Eine Vorstellung von Zukunft als eines einheitlichen geschichtlichen Zeitraums bilde sich, so die entsprechende geschichts- und kulturwissenschaftliche Forschung1), erst im Laufe des 17. und 18. Jahrhunderts und in engem Zusammenhang mit dem neuzeitlichen Konzept der Geschichte aus (Hölscher 2016, hier 11).2) Erst in dem Moment aber, in dem Zukunft um 1800 als potentiell ergebnisoffen und gestaltbar erfahrbar wird, kann, so die These aus wissenshistorischer Perspektive, auch die Frage nach plötzlichen und tiefgreifenden Brüchen innerhalb dieses Prozesses allererst auftreten. Und erst vor diesem Hintergrund entsteht, so die These, in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts neben anderen zeitbezogenen Wörtern wie beispielsweise dem neuen Adjektiv zukunftsfähigWGd auch das Substantiv Zeitenwende.
In der Bedeutung tiefgreifende Zäsur in der (Zeit-)Geschichte
ist Zeitenwende bis in die Gegenwart hinein stabil (1881, 1927, 1948, 1979, 1999a). Daneben stehen Verwendungen in der Bedeutung Beginn der christlichen Zeitrechnung
(1939), die bis heute begegnen (1997), inzwischen aber als veraltend gelten, mithin langsam außer Gebrauch kommen (vgl. etwa die Buchung in DWDS unter ZeitenwendeDWDS).
Zunehmende Verbreitung ab der Jahrhundertwende
Ab etwa 1900 steigt die Verbreitung beider Formvarianten Zeitwende und Zeitenwende zunächst langsam, ab den 1920er Jahren dann deutlicher mit einem Höhepunkt in den 1940er Jahren, bevor die Verwendungshäufigkeit vorläufig wieder sinkt (vgl. die entsprechende Wortverlaufskurve des Google NGram Viewers). Insgesamt sind die beiden Varianten bis Mitte des 20. Jahrhunderts etwa gleich weit verbreitet – dann aber treten sie hinsichtlich ihrer Verwendungshäufigkeit deutlich auseinander: Zeitwende ist nun erkennbar rückläufig in der Verbreitung, wohingegen die Bezeugungshäufigkeit von Zeitenwende ansteigt.
Bedeutungserweiterung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts
In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und damit etwa zeitgleich zur weiteren Verbreitung der Variante Zeitenwende erfährt das Wort eine Bedeutungserweiterung: Es wird nun auch allgemeiner für Umbruchsituationen verwendet (1967a, 1982a). In diesem Zusammenhang lassen sich nun vermehrt auch Wortverbindungen nachweisen, die die Art des Umbruchs spezifizieren, der nicht mehr einen gesamten Kulturraum, sondern lediglich einen größeren oder kleineren gesellschaftlichen Teilbereich umfasst. Beispiele hierfür wären stilistische Zeitwende (1956), ökonomische Zeitwende (1982b), politologische Zeitenwende (1983) sowie nicht zuletzt politische Zeitenwende (1995). Komposita mit Zeitenwende wie etwa Fußball-Zeitenwende (2000) sind dahingegen äußerst selten.
Wort des Jahres 2022
In seiner Regierungserklärung vom 27. Februar 2022 zum Angriff Russlands auf die Ukraine vom 24. Februar desselben Jahres verwendet der amtierende Bundeskanzler Olaf Scholz mehrfach und prominent das Wort Zeitenwende (vgl. 2022a). Scholzʼ Verwendung ist damit wohl in zwei wortgeschichtlichen Entwicklungslinien einzuordnen: Zum einen verwendet er es in der seit dem 19. Jahrhundert belegten speziellen Bedeutung tiefgreifende Zäsur in der (Zeit-)Geschichte
. Zum anderen mögen mindestens indirekt aber auch die steigende Verbreitung des Wortes in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts sowie die infolge der Bedeutungserweiterung zu beobachtende zunehmende Bezugnahme auf politische Ereignisse im Allgemeinen (1992, 2004, 2017) im Hintergrund stehen.
Von Beginn an wird das Wort Zeitenwende im Anschluss an Scholz‘ Rede in den Medien nicht nur aufgenommen (vgl. nur 2022b, 2022c, 2022e), sondern seine Verwendung in der Regierungserklärung sowie die Relevanz und Reichweite dieser Besetzung auch explizit reflektiert:
Als Olaf Scholz vergangenen Sonntag während der Sondersitzung des Bundestages zum Krieg in der Ukraine eine Regierungserklärung hielt, arrangierte er seine Rede um einen Schlüsselbegriff. Diesen nannte er gleich im ersten Satz:Der 24. Februar 2022 markiert eine Zeitenwende in der Geschichte unseres Kontinents.Kurz darauf wiederholte Scholz diesen Begriff, verstärkte und untermauerte ihn:Wir erleben eine Zeitenwende. Und das bedeutet: Die Welt danach ist nicht mehr dieselbe wie die Welt davor.Bis zum Ende der Rede fielZeitenwendenoch drei weitere Male.
Das wesentliche Mittel einer demokratischen, den Grundsätzen der Verfassung unterliegenden Politik ist Sprache. Sprache kann Wirklichkeiten abbilden und verdichten. Umgekehrt kann Sprache aber auch Wirklichkeiten stiften, eingreifen, Orientierung bieten und mitunter weitreichende Entscheidungen herbeiführen. Letzteres hatte die Regierungserklärung des Bundeskanzlers zum Ziel: Die Einrichtung eines sogenanntenSondervermögens Bundeswehrmit einmalig 100 Milliarden Euro – um laut Scholznotwendige Investitionen und Rüstungsvorhabenzu finanzieren. [2022d]
Scholzʼ Rede wird im Übrigen auch als Zeitenwende-Rede bezeichnet (2022f, 2022g). Die prominente Besetzung des Wortes in der Regierungserklärung führt schließlich dazu, dass Zeitenwende von der Jury der Gesellschaft für deutsche Sprache (GfdS) zum Wort des Jahres 2022
erklärt wird (vgl. auch die Begründung der GfdS).
Zeitenwende, Weltenwende. Synonyme
Neben Zeitenwende begegnet mit Weltwende (1843, 1860), dann auch Weltenwende (1869), seit der Mitte des 19. Jahrhunderts ein Synonym in der Lesart tiefgreifende historische Zäsur
. Diese Lesart ist bis heute stabil (1911, 1944, 2009b). Das 1DWB geht davon aus, dass eine Gelegenheitsbildung von Immermann, Weltwendung, der Bildung des Wortes Weltwende vorangegangen sei, die auf 1835 zu datieren ist (1835a; vgl. 1DWB 28, 1734–1735). Tatsächlich ist Weltwendung allerdings bereits seit den 1820er Jahren – und damit sicherlich nicht zufällig in etwa zeitgleich zu den Erstbezeugungen von Zeitwende bzw. Zeitenwende – nachweisbar (1822b).
Bis etwa 1920 sind Weltenwende und Zeitenwende in etwa gleich häufig belegt; anders als Zeitenwende steigt die Bezeugungsfrequenz von Weltenwende danach allerdings nicht an (vgl. die entsprechende Wortverlaufskurve des Google NGram Viewers). Die semantische Entwicklung von Weltenwende weist Parallelen zu Zeitenwende auf: Auch Weltenwende ist in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in allgemeinerer Bedeutung bezeugt (1967b). Nicht zuletzt begegnet das Substantiv wie Zeitenwende auch (1989, 2009a) nach 1989/90 häufiger auch in Bezug auf die deutsche Wiedervereinigung und den Zusammenbruch der Sowjetunion und des Ostblocks (1993, 1999b; vgl. in diesem Zusammenhang auch WendezeitWGd).
Anmerkungen
1) Vgl. hierzu insb. Hölscher 2016, hier v. a. die beiden Abschnitte Auf dem Weg zur Moderne
und Die Periode der Entdeckung 1770–1830
; daneben auch Assmann 1999, 50–53, sowie HWPh 12, 1426–1436, hier insb. 1429–1430.
2) Damit soll natürlich nicht gesagt werden, dass es zuvor keine sprachlich expliziten und im Handeln impliziten Bezugnahmen auf Zukünftiges (sic) gegeben hat, dass menschliches Denken und Handeln nicht immer in der Zeit stattfinden. Die Fähigkeit, sich selbst in die Zukunft und in die Vergangenheit hinein zu entwerfen, ist jedoch, so die These, eine historisch spezifische Denkform: Zwar gab es schon immer zukünftige Ereignisse, die die Menschen erwarteten, aber nicht immer gab es die Vorstellung von einer homogenen, allmählich verfließenden Zeit, in der sich solche Ereignisse vorausschauend ansiedeln lassen.
(Hölscher 2016, 10; vgl. zu dieser Abgrenzung auch Hölscher 2016, 11–12).
Literatur
Assmann 1999 Assmann, Aleida: Zeit und Tradition: Kulturelle Strategien der Dauer. Köln 1999.
Assmann 2013 Assmann, Aleida: Ist die Zeit aus den Fugen? Aufstieg und Fall des Zeitregimes der Moderne. München 2013.
1DWB Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm. Bd. 1–16. Leipzig 1854–1961. Quellenverzeichnis Leipzig 1971. (woerterbuchnetz.de)
DWDS DWDS. Der deutsche Wortschatz von 1600 bis heute. (dwds.de)
Handbuch Kulturwissenschaften Jaeger, Friedrich (Hrsg.): Handbuch der Kulturwissenschaften. Bd. 1–3. Stuttgart u. a. 2004.
Hölscher 2016 Hölscher, Lucian: Entdeckung der Zukunft. 2. Aufl. Göttingen 2016.
HWPh Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hrsg. von Joachim Ritter, Karlfried Gründer, Gottfried Gabriel. Völlig neubearb. Ausg. des „Wörterbuchs der philosophischen Begriffe“ von Rudolf Eisler. Bd. 1–13. Basel 1971–2007.
Weitere wortgeschichtliche Literatur zu Zeitenwende, Weltenwende.