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Spießer

Politik & Gesellschaft

Kurz gefasst

Das Mitte des 19. Jahrhunderts aufkommende Spießer in der Bedeutung engstirnige Person stellt eine Kürzung von gleichbedeutendem älteren Spießbürger dar. Mit den Bildungen Spießer junger Hirsch und Spießer lanzentragender Soldat steht es in keiner wortgeschichtlichen Verbindung. Im Laufe des 20. Jahrhunderts entwickelt es sich zu einem Stigmawort, das in politischen Auseinandersetzungen zur Diffamierung der Gegenseite verwendet wird.

Wortgeschichte

Spießer: lexikalische Vielfalt

Die ältere Wortgeschichte von Spießer ist zunächst durch die Koexistenz von zwei gleichlautenden, in Bezug auf Bedeutung und Herkunft jedoch strikt zu trennenden Varianten gekennzeichnet: Zum einen gibt es Spießer als Bezeichnung für ein Rotwild mit noch jungem, unverzweigtem Geweih (z. B. 1724). Hier liegt eine Ableitung von Spieß1 Geweihende eines Hirsches vor, einem Wort, das etymologisch mit spitz zusammenhängt. Daneben steht Spießer mit einer Lanze ausgerüsteter Soldat (z. B. 1605). Dieser Bildung liegt ein anderes Wort zugrunde, nämlich Spieß2. Dieses geht nicht auf das Adjektiv spitz , sondern auf das mittelhochdeutsche Wort spiez Bratspieß zurück (zu den komplexen etymologischen Verhältnissen s. Pfeifer unter Spieß1DWDS und 25Kluge, 867).

Die Personenbezeichnung Spießer engstirniger Mensch, die Mitte des 19. Jahrhunderts (1848) erstmals auftritt, ist gegenüber den eben genannten Bildungen vergleichsweise jung. Sie setzt allerdings wohl weder Spießer junges Rotwild noch Spießer Lanzenträger fort, sondern ist aller Wahrscheinlichkeit nach als Kürzung aus SpießbürgerWGd zu erklären, das bereits seit dem 17. Jahrhundert bezeugt ist. Nicht auszuschließen ist freilich, dass die bereits bestehenden Homonyme Spießer1 junges Rotwild und Spießer2 Lanzenträger die Bildung der Kurzform begünstigt haben. Eine Homonymenflucht liegt hier in jedem Fall nicht vor.

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Den ältesten bisher greifbaren Beleg für Spießer als abwertend-spöttische Personenbezeichnung bietet ein Text von Jean Paul (1827, hier: philosophischer Spießer). Der Wortgebrauch ist hier aber deutlich erkennbar als Metapher zu Spießer1 junges Rotwild zu beschreiben (ein solcher philosophischer Spießer […] ſpießt Groß und Klein, wie auch der Spießer im Walde […] gefährlicher verwundet, als ein altes Thier von Sechzehnender). Eine von dieser offenbar isoliert bleibenden Übertragung ausgehende wortgeschichtliche Traditionslinie zu Spießer engstirnige Person ist nicht erkennbar.

Der gutmütige Durchschnittsmensch

Vergleicht man die älteren Belege Spießer mit denjenigen für die Langform SpießbürgerWGd, so treten – wenn auch minimale – Unterschiede im Gebrauch zutage (die angesichts der immer noch spärlichen Überlieferung für das 19. Jahrhundert nicht überinterpretiert werden sollten). Im Gegensatz zu dem oft abwertend verwendeten Spießbürger tendiert die Kurzform Spießer nach Ausweis der vorhandenen Belege aus dieser Zeit zu einer neutral bis positiv gefärbten Perspektive: Spießer werden hier eher als gutmütige Gestalten beschrieben (1856) oder humoristisch als etwas einfältige Durchschnittsbürger dargestellt (1876, 1898).

Spießer sind immer die anderen

Im Laufe des 20. Jahrhunderts, in dem auch die Bezeugungshäufigkeit des Wortes stark zunimmt, überwiegt dann der negative Gebrauch. Spießer wie Spießbürger sind grundsätzlich dumm, einfältig, selbstbezogen und engherzig (1928, 1933, 1935, 1939, 1954, 1985). Diese negative Eigenschaftszuschreibung nutzen Autoren auch gerne dazu, die eigene Überlegenheit, ihr angebliches Unverstandensein durch die breite Masse herauszustellen (1918). Zur Bezeichnung des quasi unausrottbaren Sozialtypus dient auch die Verbindung der ewige Spießer, überwiegend wohl im Anschluss an den 1930 erschienenen gleichnamigen Roman von Ödön von Horváth (zur Verbindung z. B. der Beleg 1989, vor Horváths Roman vgl. allerdings die Belege 1926 und 1929).

Der Spießer-Vorwurf entwickelt sich auch zum Instrument in den publizistischen Auseinandersetzungen der Weimarer Republik. So wird auf der linken Seite des politischen Spektrums die latente Brutalität des Spießers hervorgehoben (etwa bei Kurt Tucholsky 1920 und 1924), während die Publizistik der Rechtsextremen die Naivität der deutschen Spießer anprangert, die sich vom Feind des Volkes betrügen ließen (1929, 1932, 1933). Spießer ist hier zum Stigmawort in den politischen Auseinandersetzungen geworden, und in den je nach politischem Standpunkt unterschiedlichen Negativzuschreibungen lassen sich auch Züge einer sog. Bedeutungskonkurrenz erkennen.

Das Feindbild des Spießers ist dann auch in der Zeit um 1970 virulent. Hier wird auf Kosten eines (imaginierten) Durchschnittsbürgers die eigene Fortschrittlichkeit und Unangepasstheit vorgeführt (1968a, 1968b, 1969). Als Gegenreaktion erfährt Spießer dann ab den 1980er und 1990er Jahre eine positive Umdeutung. In dieser besonderen Form der Bedeutungsverbesserung soll die bewusste Aneignung des negativ besetzten Worts Spießer originell und provokant wirken (z. B. 2002; zum neuen Spießer vgl. auch Kajetzke 2010, 376–378).

Literatur

Kajetzke 2010 Kajetzke, Laura: Der Spießer. In: Stephan Moebius/Markus Schroer (Hrsg.): Diven, Hacker, Spekulanten: Sozialfiguren der Gegenwart. Berlin 2010, S. 366–380.

25Kluge Kluge – Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. Bearb. von Elmar Seebold. 25., durchgesehene und erweiterte Aufl. Berlin/Boston 2011.

Pfeifer Pfeifer, Wolfgang u. a.: Etymologisches Wörterbuch des Deutschen (1993), digitalisierte und von Wolfgang Pfeifer überarbeitete Version im Digitalen Wörterbuch der deutschen Sprache. (dwds.de)

Belegauswahl

[…]Weyter ziehen daher die Duppelſoͤldner/ vnder denen/ die vom Adel vnd beſt angeleget vnd ſtaffirt ſeynd am vorderſten/ in gleicher Ordnung/ ſtrecken die Glieder fein weyt von einander. Da dieſer Glieder drey voruͤber/ fuͤhret man darzwiſchen eyn/ ein Gliedt mit Schlachtſchwerdtern/ oder andern kurtzen Wehren. Jſt das Regiment ſo ſtarck/ vnnd der kurtzen Wehr viel vberig/ wirdt auffs neuw hiereyn abgezehlet/ vnnd noch einmal nach dem dritten Gliedt Spieſſer oder Duppelſoͤldner/ ein Gliedt mit Schlachtſchwerdern zwiſchen eyngefuͤhret/ vnnd als dann wider Spieſſer oder lange Glieder.

Becke, Berthold von der: Soldaten-Spiegel. Frankfurt (Main) 1605, S. 112. (deutschestextarchiv.de)

Die jungen Hirſche oder Spieſſer brunfften zuletzt, weil ihre Feiſt und Geilheit nicht reiff, ſie gehen auch hernach vor Furcht in die Moraͤſte.

Fleming, Hans Friedrich von: Der Vollkommene Teutsche Jäger. Anderer Haupt-Theil. Leipzig 1724, S. 101. (deutschestextarchiv.de)

Unmöglich kann ein ſolcher philoſophiſcher Spießer ſich auf langes Unterſcheiden zwiſchen Alten vom Berge, und zwiſchen Alten vom Thale einlaſſen, ſondern er ſpießt Groß und Klein, wie auch der Spießer im Walde, nach Bechſtein, gefährlicher verwundet, als ein altes Thier von Sechzehnender.

Jean Paul: Sämmtliche Werke: Herbst-Blumine, oder Gesammelte Werkchen aus Zeitschriften. Berlin 1827, Bd. 48, Lfg. 10/3, S. 51. (books.google.de)

Der gutmüthige Spießer, der die welterschütternden Begebenheiten bereits verdaut, reißt sich aus den letzten Banden seiner politischen Verpuppung – auf gut Breslauisch, er wird lebenslustig. Sonntags geht er in Liebich’s Garten, zahlt zwei gute Groschen Entrée, schmaucht seine Cigarre, […].

Neue Zeitschrift für Musik 36 (31. 10. 1848), S. 211. (onb.ac.at)

Die gemüthlichen Wiener Spießer sollten gar bald erfahren, wie sich der Bonapart’ in der Nähe ausnimmt.

Landsteiner, L.: Morgen-Post Wien, 5. 1. 1856, S. 11 (books.google.de)

Laad … ist dem echten Wiener Spießer no allerweil um die gute alte Zeit, wo’s am Brigitter-Kirtag allein mehr Räusche gegeben hat, als jetzt im ganzen Jahr.

Rigl, R.: Wiener Luft. Beiblatt zum Figaro. Nr. 23 (1876) (Erklärung der Wienerischen Volkssprache), [o. S.] (books.google.de)

Der Wiener Spießer wollte, so sagte ihm ein reactionärer Schriftsteller zu seinem Lobe nach, „seine Errungenschaften ebenso ruhig wie er sie erworben, ebenso ruhig genießen (er hatte sich allerdings nicht sehr incommodirt) […]“.

Bach, Maximilian: Geschichte der Wiener Revolution im Jahre 1848. Wien 1898, Bd. 18, S. 424. (books.google.de)

Wenn der »Japanische Kriegsmarsch« besser ist als die Burenhymne, möge er immerhin gespielt werden; man sieht die nationalen Begeisterungen des Spießers lieber in Gassenhauern als in Straßenprügeleien ihre Ableitung finden.

Kraus, Karl: Die Fackel [Elektronische Ressource], 2002 [1904], S. 14. [DWDS]

Ich aber hatte von der Mehrheit der deutschen Presse durch die ganze Zeit wesentlich nur Lügen, Verleumdungen und Beschimpfungen; von der Regierung Mißachtung der wesentlichsten meiner Arbeiten; vom deutschen Spießer Gleichgültigkeit oder Hohn erfahren.

Peters, Carl: Lebenserinnerungen. In: Simons, Oliver (Hg.): Deutsche Autobiographien 1690–1930. Berlin: Directmedia Publ. 2004 [1918], S. 52676. [DWDS]

Die versetzte Wut verärgerter Spießer, die sich bei jeder Gelegenheit an der Republik, an den Revolutionären, am Radikalismus, an dem lieben Gott rächen wollen, wird den Lauf der Dinge auch nicht aufhalten.

Tucholsky, Kurt: Die Sittlichen. In: Kurt Tucholsky, Werke – Briefe – Materialien, Berlin: Directmedia Publ. 2000 [1920], S. 2023. [DWDS]

Seitdem man dem modernen Spießer die Tötungsmaschine zum Spielen gegeben hat, ist er nicht mehr zu halten.

Tucholsky, Kurt: Gewehre auf Reisen. In: Kurt Tucholsky, Werke – Briefe – Materialien, Berlin: Directmedia Publ. 2000 [1924], S. 3248. [DWDS]

[…] ist es die Geschichte davon, wie das deutsche Bureaukratentum, der ewige Spießer und der deutsche Professor über einen feinen musischen Menschen ihren ebenso typischen, wie leichten, wie ekligen Sieg davontragen.

N. N. in: Die Schöne Literatur. 1926. Bd. 27, S. 5. (books.google.de)

Nie hat die Macht der bürgerlichen Presse ihren Triumph der Seelenverpestung in Skandal und Lüge voller durchgenossen; nie sind Dummheit des Spießers und Frechheit des Schiebers lebensunmittelbarer aus den Kolumnen hervorgetreten, aus diesem Gewirr einer illustrierten Tobsucht, die schon äußerlich das Abbild eines Tandelmarktes ergibt.

Kraus, Karl: Rechenschaftsbericht. In: Die Fackel [Elektronische Ressource], 2002 [1928], S. 15. [DWDS]

Der Gautag im April des vergangenen Jahres in Marburg zeigte den ewigen Spießern, daß etwas Neues, Kraftvolles ersteht.

Völkischer Beobachter (Reichsausgabe), 2. 3. 1929, S. 7. [DWDS]

Der brave Spießer aber fällt darauf herein und wählt lieber „linke Mitte“, um nur ja nicht das großmächtige Ausland zu „verärgern“ oder unnötig aufzuregen".

Völkischer Beobachter (Reichsausgabe), 2. 3. 1932, S. 8. [DWDS]

Weil Spießer überhaupt niemals etwas kapieren, außer Fragen des eigenen Bauches.

Goote, Thor [d. i. Langsdorff, Werner von]: Die Fahne Hoch! Berlin 1933, S. 118. [DWDS]

Haben die Spießer nicht einst seinem Meister Reichhart (Richard Wagner) das Leben zur Hölle gemacht?

Schuhmann, Otto: Meyers Opernbuch. Leipzig 1938 [1935], S. 454. [DWDS]

Es vereinigt sich in solcher huliganhafter Kraftmeierei der sture Dünkel eines gedankenlosen weissen Schiffheizers, dem Rassenwahn eingeflösst hat, sich über jeden Exoten, selbst den kultiviertesten, masthoch überlegen zu fühlen, mit dem schäbigen Geiz eines engherzigen Spiessers, den jede Formel, die ihm einen Batzen zu ersparen rät, als frohe Botschaft beglückt.

N. N.: 1 Fusstritt = 10 Cents. In: Gelbe Post, 1. 5. 1939, S. 2. [DWDS]

Sie konnten sich nicht sehen, sie konnten sich nicht in die Augen sehen, und sie konnten sich nicht vor Pfaffraths sehen, vor diesen Spießern, die nichts begriffen und verstanden hatten.

Koeppen, Wolfgang: Der Tod in Rom. In: Wolfgang Koeppen: Drei Romane. Frankfurt a. M. 1972 [1954], S. 471. [DWDS]

Den sexuell Verklemmten und den forciert Enthemmten verbindet die gleiche heimliche Identität der Triebstruktur, die zwischen dem angepaßten Bürger und dem Kriminellen waltet und sich im Rückgang der Gewaltverbrechen zu Kriegszeiten ebenso verrät wie in der Bereitschaft des Spießers, am kollektiv gedeckten Verbrechen ruhigen Gewissens mitzutun.

Die Zeit, 6. 9. 1968, Nr. 36. [DWDS] (zeit.de)

[…] also wir Hin- und Hergerissenen, die ihr uns als Schweine, als Idioten, als Opportunisten, als Konformisten, als Knechte der Herrschenden, als Spießer, als Liberale verachtet, die wir euch aber zuhören und dazuzulernen uns nicht von vornherein weigern.

Die Zeit, 4. 10. 1968, Nr. 40. [DWDS] (zeit.de)

Manche werden schlimmere Spießer als diejenigen, gegen die sie revoltiert haben.

Schmidt-Rogge, Carl H.: Dein Kind – Dein Partner. München 1973 [1969], S. 437. [DWDS]

Die Satten, die Verschlafenen, die Dogmatiker, die Spießer und die Orthodoxen in allen Lagern können nicht viel mit Jesus anfangen.

Alt, Franz: Liebe ist möglich. München 1985, S. 44. [DWDS]

Nicht wieder die schiefen Klischees vom deutschen Untertan, vom dahindämmernden Michel, vom ewigen Spießer!

Die Zeit, 7. 7. 1989, Nr. 28. [DWDS] (zeit.de)

„Ich bin ein Spießer
Doch auch Genießer
Kannst nicht behaupten
Ich sei korrupt.“

Der Tagesspiegel, 6. 11. 2002. [DWDS]