Wortgeschichte
Pflichtgefühl: Ein Kompositum des 18. Jahrhunderts
Mit Pflichtgefühl ist seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert ein neues Kompositum zu Pflicht belegt (1791). Seither bezeichnet Pflichtgefühl zentral die Empfindung, eine wie auch immer gelagerte übergeordnete Pflicht erfüllen zu müssen (1809, 1915, 2012b).
Das jeweilige Pflichtverständnis, das dem Pflichtgefühl zugrunde liegt, ist durchaus unterschiedlich. Innerhalb des breiten semantischen Spektrums von Pflicht (vgl. hierzu 10Paul, 745; s. auch 1DWB 13, 1752–1762) leitet es sich insbesondere aus den Bedeutungen Dienstverbundenheit, -aufgaben
sowie moralische Verbindlichkeit
ab. Entsprechend begegnet Pflichtgefühl sowohl in einem engeren Sinn in Bezug auf entsprechende Dienstaufgaben (1792, 1898) als auch in einem allgemeineren Sinn in Bezug auf etwaige moralische, sittliche oder vergleichbare Werte und Tugenden (1803, 1859). Pflichtgefühl impliziert dabei, dass die entsprechend der übergeordneten empfundenen Pflicht ausgeführten Handlungen in einem gewissen Spannungsverhältnis zum eigentlich empfundenen oder gewollten (1883, 1890, 1980a) bzw. zu den eigentlichen Überzeugungen (1845, 1974) stehen. Entsprechend kann Pflichtgefühl auch Bedeutungsaspekte des Opfers für die übergeordnete Pflicht umfassen (1946a, 1994).
Wortverbindungen und Konnotationen
Dass dem jeweiligen Wortgebrauch je unterschiedliche Konzeptionen von Pflicht zugrunde liegen, zeigt sich nicht zuletzt in entsprechenden Wortverbindungen. In den Quellen begegnen solche mit politischen Implikationen wie beispielsweise nationales Pflichtgefühl (1895b), bürgerliches Pflichtgefühl (1886), dynastisches Pflichtgefühl (1889). Daneben treten eher auf Werte und Tugenden bezogene Verbindungen wie sittliches Pflichtgefühl (1859) oder moralisches Pflichtgefühl (1850), es begegnen aber auch spezifischere Verbindungen wie beispielsweise mütterliches Pflichtgefühl (1946b). Pflichtgefühl kann im Übrigen sowohl positiv (1956) als auch negativ (1895a) konnotiert sein.
Pflichtbewusstsein und pflichtbewusst. Bedeutungsverwandte Wörter
Mit Pflichtbewusstsein ist seit Beginn des 19. Jahrhundert (1807) ein weiteres Kompositum zu Pflicht belegt, das, auch wenn es mit dem Zweitglied -bewusstsein gegenüber dem Zweitglied -gefühl eher das Rationale betont, doch weitgehend synonym zu Pflichtgefühl verwendet wird (1860, 1909, 1940, 1980b, 2012a). Pflichtbewusstsein ist gegenüber Pflichtgefühl insgesamt weniger verbreitet. Zu Pflichtbewusstsein wird in den 1830er Jahren zudem das Adjektiv pflichtbewusst rückgebildet (1832); es ist seither in entsprechender Bedeutung in den Quellen nachweisbar (1848, 1910, 1949, 1950, 1971, 1999).
Literatur
1DWB Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm. Bd. 1–16. Leipzig 1854–1961. Quellenverzeichnis Leipzig 1971. (woerterbuchnetz.de)
10Paul Paul, Hermann: Deutsches Wörterbuch. Bedeutungsgeschichte und Aufbau unseres Wortschatzes. 10., überarbeitete u. erweiterte Aufl. von Helmut Henne, Heidrun Kämper und Georg Objartel. Tübingen 2002.
Belegauswahl
Schaumann, Johann Christian Gottlieb: Psyche oder Unterhaltungen über die Seele. Zweyter Theil. Halle 1791, S. 442. (deutschestextarchiv.de)Wer ihrer bedarf, hoffe nicht auf ihr Pflichtgefuͤhl; ſondern reize ihren Stolz und preiſe ihr goldenes Gluͤck, ſo wird er ſeinen Zweck erreichen.
Schiller, Friedrich: Geschichte des dreyßigjährigen Kriegs. Frankfurt/Leipzig 1792, S. 394. (deutschestextarchiv.de)Aber, was er sich als etwas so leichtes gedacht hatte, stand als der furchtbarste Gegner wider ihn auf; an dem Pflichtgefühl seiner Truppen scheiterten alle seine Berechnungen.
Reil, Johann Christian: Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen. Halle (Saale) 1803, S. 475. (deutschestextarchiv.de)Ihr Charakter ſey unbeſcholten, ihr Herz edel; Menſchenliebe und Pflichtgefühl leite jeden ihrer Schritte; fern ſey aller Eigennutz, Liebe für die Kunſt und Trieb, das vorgeſteckte Ziel zu erreichen, belebe ihre Thätigkeit.
Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Die Phänomenologie des Geistes. System der Wissenschaft. Erster Theil: Die Phänomenologie des Geistes. Bamberg/Würzburg 1807, S. 563–564. (deutschestextarchiv.de)Was ihm, das als Selbſtbewuſstseyn ein anderes, denn der Gegenſtand iſt, hiemit übrig bleibt, iſt die Nichtharmonie des Pflichtbewuſstseyns und der Wirklichkeit, und zwar seiner eignen.
Thaer, Albrecht Daniel: Grundsätze der rationellen Landwirthschaft. Bd. 1. Begründung der Lehre des Gewerbes. Oekonomie oder die Lehre von den landwirtschaftlichen Verhältnissen. Berlin 1809, S. 185. (deutschestextarchiv.de)Daß dazu noch eine vorzuͤgliche Rechtſchaffenheit und ein entſchiedenes Uebergewicht des Pflichtgefuͤhls uͤber alle Regungen des Egoismus hinzukommen muͤſſe, wenn die Wirthſchaft nicht ſein Eigenthum iſt, verſteht ſich von ſelbſt.
Königlich-Bayerisches Intelligenzblatt für den Isarkreis XI, 14. März 1832, Sp. 250. (books.google.de)So denkt sich das biedere hellsehende Volk seine Verfassung; so hat sie ihr Urheber gegeben, so haben sie Fürst und Stände beschworen, so wird die Regierung sie auch fortan pflichtbewußt zu vollziehen, und unverfälscht durch die Stürme der Zeit hindurch zu führen wissen.
Dahlmann, Friedrich Christoph: Geschichte der französischen Revolution bis auf die Stiftung der Republik. Leipzig 1845, S. 293. (deutschestextarchiv.de)Für den Lebensretter der königlichen Familie galt damals Lafayette; von dieſem Retter aber wußte man daß er zwar aus Pflichtgefühl ſeinem Könige treu diene, jedoch im Herzen Republikaner ſey.
Allgemeine Zeitung, 22. März 1848, Nr. 82. (deutschestextarchiv.de)Als wollen Wir Uns zu sämmtlichen Ständen, Bürgern und Unterhanen in den Städten und auf dem Lande, auch allen Bediensteten und überhaupt allen Unseren Erblanden Angehörigen, welchen Standes, Würde und Wesens sie immer seyn mögen, gnädigst versehen daß sie Uns von nun an für ihren rechtmäßigen und einzigen Landesherrn so willig als pflichtmäßig erkennen, Uns unverbrüchliche Treue und unweigerlichen Gehorsam leisten, sofort in Allen Stücken sich, wie es pflichtbewußten Unterthanen gegen ihre von Gott verordnete Landesherrschaft und Obrigkeit gebührt, gegen Uns bezeigen werden.
Wiener Zeitung, 29. Oktober 1850, Nr. 258. (deutschestextarchiv.de)Ein anderer Beweggrund zur Uebernahme liege in der Stellung des Staates zur Chemnitz=Riesaer Eisenbahngesellschaft, die als Corporation dem Staate gegenüber nichts weniger als rechtlos dastehe, da sie ein gewichtiges Recht, das moralische Pflichtgefühl, das Recht der Billigkeit zur Seite habe, und von diesem Asyl aus, selbst als paciscirender Theil, etwas mehr als nur die Rolle eines demüthig Bittenden übernehmen dürfe.
Mohl, Robert von: Encyklopädie der Staatswissenschaften. Tübingen 1859, S. 375. (deutschestextarchiv.de)Was etwa zur Förderung von Interreſſen der Unterthanen geſchieht, z. B. für Unterrichtszwecke, Verkehrsförderung, öffentliche Geſundheitspflege u. ſ. w., iſt lediglich Geſchmack und Sache der Gnade, ſei es nun daß Eitelkeit, Liebhaberei oder natürlich ſittliches Pflichtgefühl die Anordnung veranlaſſen mag.
Allgemeine Zeitung, 12. Juni 1860, Nr. 164. (deutschestextarchiv.de)Wenn nicht schon, wie wir überzeugt sind, das Pflichtbewußtseyn die deutschen Fürsten abhalten würde mit dem französischen Imperator sich einzulassen, die politische Klugheit allein müßte sie gegen alle Verführung oder Einschüchterung sicher stellen.
Beyer, Conrad: Deutsche Poetik. Theoretisch-praktisches Handbuch der deutschen Dichtkunst nach den Anforderungen der Gegenwart. Bd. 2. Stuttgart 1883, S. 447. (deutschestextarchiv.de)Liebe und Pflichtgefühl kämpfen den schwersten Kampf.
Preuß, Hugo: Franz Lieber, ein Bürger zweier Welten. Berlin 1886, S. 41. (deutschestextarchiv.de)In dem Lande, welches sich freiheitlicher Zustände erfreut in realer Wirklichkeit, warnte er vor gleichgiltiger Selbstgenügsamkeit am Vorhandenen, wies er hin auf die veredelnde Kraft wissenschaftlichen Erkennens, predigte er die heilige Lehre bürgerlichen Pflichtgefühls.
Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Vierter Theil: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig 1889, S. 18. (deutschestextarchiv.de)Der Stolz des franzöſiſchen Prinzen blieb ihm ebenſo fremd wie das dynaſtiſche Pflichtgefühl; die Macht der Geſchichte, das tauſendjährige Recht der Capetinger erweckte in dieſer trockenen Seele gar keine Ehrfurcht.
Allgemeine Zeitung, 12. Dezember 1890, Nr. 344. (deutschestextarchiv.de)Wir wissen ja, daß er nicht aus persönlichem Interesse, ich glaube das ohne Schmeichelei sagen zu können, sondern aus Pflichtgefühl dem Rufe seines Monarchen gefolgt ist und die schwere Last des Amtes auf sich genommen hat, das er hier auch uns gegenüber auszuüben hat.
Akunian, Ilse: Flügel auf! Novellen. Berlin 1895, S. 166. (deutschestextarchiv.de)Ich glaube, daß es nur übertriebenes Pflichtgefühl ist, was Sie zu dem Brief an Toni veranlaßt hat.
Mährisches Tagblatt, 24. 5. 1895, Nr. 119, S. [2]. (deutschestextarchiv.de)Die mit der Gauverbands-Thätigkeit verbundene eingehendere Erkundung der Verhältniſſe an den Sprachgrenzen und in den bedrängten Gebieten, wird auf das nationale Pflichtgefühl, das, ferne vom Schuſſe, einzuſchlummern droht, belebend wirken und angeſichts der drohenden Gefahr den Weckruf zur Abwehr ſo laut ſchallen laſſen, daß darob die Schläfer erwachen, und unter Verzicht auf Sonderbeſtrebungen ſich alle Stammesgenoſſen wieder die Hand reichen, darin wenigſtens einig: dem gemeinſamen Feinde auch gemeinſam gegenüberzutreten.
Bismarck, Otto von: Gedanken und Erinnerungen. Bd. 1. Stuttgart 1898, S. 3. (deutschestextarchiv.de)Ich habe als Miniſter ſtets ein landsmannſchaftliches Wohlwollen für eingeborne preußiſche Diplomaten gehabt, aber im dienſtlichen Pflichtgefühle nur ſelten dieſe Vorliebe bethätigen können, in der Regel nur dann, wenn die Betheiligten aus einer militäriſchen Stellung in die diplomatiſche übergingen.
Hampe, Karl: Deutsche Kaisergeschichte in der Zeit der Salier und Staufer. Leipzig 1909, S. 18. (deutschestextarchiv.de)Seine ernste und schwere Natur handelte nicht aus glücklichem Gefühl, sondern stets aus streng gemessenem Pflichtbewußtsein.
May, Karl: Mein Leben und Streben, Selbstbiographie von Karl May. Bd. I. In: Simons, Oliver (Hrsg.) Deutsche Autobiographien 1690–1930. Berlin 2004 [1910], S. 46620. [DWDS]Er war ein hochgebildeter, sehr pflichtbewußter und humaner Herr, dessen besonderer Schreiber ich wurde.
Thimme, Friedrich/Karl Legien (Hrsg.): Die Arbeiterschaft im neuen Deutschland. Leipzig 1915. (deutschestextarchiv.de)Was wir getan und weiter tun, geschieht aus Liebe zum Volke, geschieht im Jnteresse des Volkes.
Vom Pflichtgefühl getrieben, wollen wir auch in Zukunft, wenn der Friede gekommen ist, unsere Pflicht in demselben Sinne weiter tun, wie wir es stets getan haben, den Zielen zu, die wir für die richtigen halten …
Archiv der Gegenwart 10, 20. 4. 1940, S. 4502. [DWDS]Opferbereitschaft und Pflichtbewußtsein sind sein innerer Wert.
N. N.: Einhundertsiebenundsiebzigster Tag. Freitag, 12. Juli 1946. In: Der Nürnberger Prozeß. Berlin 1999 [1946], S. 23291. [DWDS]Im Gegenteil, er brachte ein finanzielles Opfer, als er das ihm angebotene Staatsamt übernahm, und es erscheint daher durchaus glaubhaft, daß er dies aus Patriotismus, aus Pflichtgefühl gegenüber seinem Volke tat, um sich in schwerer Notzeit in den Dienst des Vaterlandes zu stellen.
Die Zeit, 21. 11. 1946, Nr. 40. [DWDS] (zeit.de)Die tapfere Frau, beflügelt von mütterlichem Pflichtgefühl, einer Hinterlassenschaft treu, die ihren zarten Schultern drückende Lasten aufbürdet, fährt keinem lockenden Ziel zu.
Die Zeit, 28. 7. 1949, Nr. 30. [DWDS] (zeit.de)Die ehrliche Finderin lieferte pflichtbewußt am nächsten Tag Aktentasche und Geld dem Besitzer in Karlshorst aus und erhielt als Belohnung 3000 DM-Ost und einen vierwöchigen Erholungsurlaub in einem Kurhotel des FDGB in der Ostzone.
Meißner, Hans-Otto: Man benimmt sich wieder. Giessen 1950, S. 193. [DWDS]So ist sich der pflichtbewußte Beamte darüber klar, wer vor ihm steht, wenn ihn ein west- und restdeutscher Staatsbürger anspricht.
Eschenburg, Theodor: Staat und Gesellschaft in Deutschland. Stuttgart 1957 [1956], S. 676. [DWDS]Zum anderen, daß vor allem in den Ministerien eine leistungsfähige, gut ausgebildete Bürokratie arbeitet, die von hohem charakterlichen und geistigen Rang und starkem Pflichtgefühl sowie ehrlicher Bereitschaft ist, den Ministern verschiedener Richtungen unter Zurückstellung der eigenen politischen Einstellung bereitwillig und loyal zu dienen.
Archiv der Gegenwart 41, 6. 5. 1971, S. 16243. [DWDS]Die Regierung habe die Lage dank der Treue und des Mutes der pflichtbewußten Polizei und Streitkräfte unter Kontrolle.
Die Zeit, 12. 4. 1974, Nr. 16. [DWDS] (zeit.de)Für die Wahl der neun (von zwölf) Senatoren, die die SPD nominiert, empfahl der Landesvorstand als einziges neues Gesicht den Hamburger Bundestagsabgeordneten Wilhelm Nölling – doch offenbar nicht in der Hoffnung auf Erneuerung, sondern aus Pflichtgefühl: Der in der Partei umstrittene Politiker soll abgesichert werden, weil unsicher ist, ob er 1976 in seinem Wahlkreis noch einmal aufgestellt wird.
Die Zeit, 6. 6. 1980, Nr. 24. [DWDS] (zeit.de)Wer ihnen zuhört, tut es meist eher aus Pflichtgefühl denn aus Neigung.
Die Zeit, 26. 9. 1980, Nr. 40. [DWDS] (zeit.de)Professor Herrmann hat durchblicken lassen, daß er seine Mission nur aus Pflichtbewußtsein, nicht jedoch aus Überzeugung durchgeführt habe.
Berliner Zeitung, 22. 10. 1994. [DWDS]Während Charles aus Pflichtgefühl den Schein wahren wollte, konnte Diana das Possenspiel nicht länger ertragen.
Hars, Wolfgang: Nichts ist unmöglich! Lexikon der Werbesprüche. München 2001 [1999], S. 407. [DWDS]Bei der Frage, welcher Kaffee ihm der liebste sei, paßte er zwar auf und antwortete pflichtbewußt mit »Tchibo-Gold-Mokka«; schränkte aber sogleich ein: »wenn ich auf dem Kontinent bin«.
Die Zeit (online), 5. 2. 2012. [DWDS] (zeit.de)Schon als Prinzessin war die junge Elizabeth das Pflichtbewusstsein in Person.
Die Zeit (online), 3. 8. 2012. [DWDS] (zeit.de)Sie wollte Präsidentin werden, ist bei der letzten Wahl aber ihrem jüngeren, glatter auftretenden innerparteilichen Konkurrenten unterlegen. Aus Loyalität und Pflichtgefühl hat sie das Außenministerium übernommen.