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Großbürger · Kleinbürger großbürgerlich · kleinbürgerlich

Politik & Gesellschaft

Kurz gefasst

Die Komposita Großbürger und Kleinbürger (seit dem 16. bzw. 17. Jahrhundert) treten zunächst als Bezeichnungen für unterschiedliche Formen des Bürgerrechts in einer Stadt auf. Seit dem 18. Jahrhundert spielen zunehmend ökonomische Gesichtspunkte eine Rolle: Großbürger sind wohlhabend, Kleinbürger eher arm. Das Wort Kleinbürger erfährt ab der Mitte des 19. Jahrhunderts eine deutliche Bedeutungsverschlechterung, vor allem in sozialistischen Publikationen. Bei Großbürger ist diese Bedeutungsverschlechterung weniger ausgeprägt. Beide Ausdrücke – und entsprechend auch die Adjektive großbürgerlich und kleinbürgerlich – haben auch unterschiedliche Konnotationen im Hinblick auf Geschmack und Bildung der so bezeichneten Personen ausgebildet.

Wortgeschichte

Klein- und Großbürger als neutrale Standesbezeichnung

Die Bezeichnungen Großbürger (seit dem 16. Jahrhundert) und Kleinbürger (seit dem 17. Jahrhundert) treten zunächst als neutral-beschreibende Rechtstermini in Erscheinung (vgl. DRW 4, 1126 und 7, 1078 f.). Sie benennen unterschiedliche Formen des Bürgerrechts in einer Stadt, stehen aber früh schon in engem Zusammenhang mit einer ökonomischen Differenzierung zwischen Arm und Reich (vgl. 1DWB 9, 521 sowie die Belege 1668 und 1844).

Diese ökonomischen Kriterien gewinnen im 18. und 19. Jahrhundert offenbar zunehmend an Gewicht (vgl. 1715, 1846).1) In diesem Sinne sind Großbürger die wohlhabenden Angehörigen der bürgerlichen Oberschicht und Kleinbürger die einfachen, wenig wohlhabenden Angehörigen der Mittelschicht, also meist Handwerker, kleinere Kaufleute und Beamte. Die Kleinbürger werden insgesamt allerdings eher am unteren Ende der bürgerlichen Gesellschaftshierarchie angesiedelt und stehen damit nur noch über den Arbeitsleuten und Dienstboten (1785).

Bedeutungsverschlechterung: Der Kleinbürger als Spießbürger

Um die Mitte des 19. Jahrhunderts setzt allmählich eine Bedeutungsverschlechterung des Wortes Kleinbürger ein. In der sozialistischen Presse aus der Zeit der Revolution von 1848/49 werden vor allem diejenigen Bürger als Kleinbürger tituliert, die sich der revolutionären Bewegung entweder gar nicht oder nicht mit der gewünschten Radikalität anschließen mögen (1848, 1867); in den Schriften von Karl Marx, aber auch bei liberalen Autoren zeichnen sie sich besonders durch ein eingeschränktes Auffassungsvermögen und Philisterhaftigkeit aus (1867, 1869, 1882). Kleinbürger ist damit eine geistig beschränkte, engherzige Person, ein SpießerWGd. Belege für die neutral-beschreibende Lesart findet sich nur noch selten (vgl. 1863).

Seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts lagern sich immer mehr negative Konnotationen an das Wort an: Kleinbürger sind nicht nur geistig beschränkt (1882), sondern auch behäbig (1911), verlumpt (1900a) oder pedantisch (1918). Das Adjektiv kleinbürgerlich hat sich dementsprechend zu einem Synonym des ebenfalls abwertenden Adjektivs spießbürgerlichWGd entwickelt (1900b, 1927, 1989a, 2006).

Der Großbürger und der Charme der Bourgeoisie

In Texten der sozialistischen Bewegung tritt der Großbürger zwar gelegentlich als negatives Zerrbild auf (1907). Zum politischen Stigmawort entwickelt sich Großbürger jedoch allenfalls im Ansatz, und insgesamt hat das Wort keine derart signifikante Bedeutungsverschlechterung erfahren wie sein Gegenstück Kleinbürger (vgl. 1930, 1985). Dies ist wohl nicht zuletzt darauf zurückzuführen, dass mit BourgeoisWGd bereits seit der Mitte des 19. Jahrhunderts ein abwertender Ausdruck vorhanden ist.

Auch das Adjektiv großbürgerlich, das wie kleinbürgerlich seit Mitte des 19. Jahrhunderts belegt ist (1856, 1888), wird, trotz einiger deutlich abwertender Verwendungen, häufig eher neutral auf Geschmack, Kultur oder auch auf bestimmte Haltungen und Einstellungen bezogen (1856, 1962, 1964, 1989b). Dies kann durchaus kritisch gemeint sein, ebensowenig wie Großbürger hat sich das Adjektiv großbürgerlich indes nie zu einem politischen Schlagwort entwickelt.

Anmerkungen

1) Im Französischen bereits des 17. Jahrhunderts entspricht dem der Gegensatz von gros bourgeois und petit bourgeois, s. TLFi unter bourgeois.

Literatur

DRW Deutsches Rechtswörterbuch. Wörterbuch der älteren deutschen Rechtssprache. Bis Bd. 3 hrsg. von der Preußischen Akad. der Wiss., Bd. 4 hrsg. von der Deutschen Akademie der Wissenschaften (Berlin, Ost), ab Bd. 5 hrsg. von der Heidelberger Akademie der Wissenschaften (bis Bd. 8 in Verbindung mit der Akademie der Wissenschaften der DDR). Bd. 1 ff. Weimar 1912 ff. (adw.uni-heidelberg.de)

1DWB Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm. Bd. 1–16. Leipzig 1854–1961. Quellenverzeichnis Leipzig 1971. (woerterbuchnetz.de)

TLFi Trésor de la langue française informatisé (Trésor de la langue française, sous la direction de Paul Imbs/Bernard Quemada. Bd. 1–16. Paris 1972–1994). (atilf.fr)

Belegauswahl

das kleine bürgerrecht wird auf ebenmässige weise wie das grosse gewonnen, nur allein dasz die so es gewinnen, so viel geldes der wette nicht als die grosz-bürger abgeben müssen.

¹DWB 9, 521 (G. R. Curicke, d. stadt Danzig hist. beschr. 132b). (woerterbuchnetz.de)

wird hinkünfftig niemand zum vorkäuffer zu gebrauchen seyn, es sey dann von verarmeten groß- oder kleinbürgern.

DRW 7, 1079 (Koenigliche Preußische Reichs-Ordnungen, Bd. 2, 330). (adw.uni-heidelberg.de)

Zeichnet sich die Klasse der niedern Geburt durch Müßiggang […], Völlerey, Faulheit und Vernachlässigung seiner Pflichten aus, so trifft dieser Vorwurf doch bey weitem nicht die ganze Nation. So wie die städtischen Einwohner, werden noch verschiedene Klassen in Eximirte und Bürger, und diese wieder in Groß- und Kleinbürger eingetheilet, auf welche der gemeine Mann von Arbeitsleuten, Dienstbothen und dergleichen folget.

Hammerdörfer, Karl/ Christian Traugott Kosche: Europa. Ein geographisch-historisches Lesebuch zum Nutzen der Jugend und ihrer Erzieher. Zweiter Band. Leipzig 1785, S. 307–308. (google.de)

Die Rechte eines Hamburger Kleinbürgers sind für eine erstaunlich geringe Summe, die eines Großbürgers, dem ein Vankokonto und andere Befugnisse zustehen, für dreihundert Thaler preußisch Courant zu erlangen.

Die Grenzboten 3/2 (1844), S. 330. (deutschestextarchiv.de)

Statt von der Wiener Gesellschaft zu sprechen, von jener heitern, buntgewebten Masse […], die in einer der reizendsten und üppigsten Stadt der Welt auf und niederwogt, sind wir in die ernsten Hallen des Gerichts gerathen, sogar bis in die traurigen Winkel des Criminalgerichts […]. Und doch werden […] gerade da einer jener dünnen Scheidewände begegnen, die den Kleinbürger von dem Großbürger, die bescheidene Bourgeoisie von dem gewichtigen Mittelstande trennt.

Die Grenzboten 5/1 (1846), S. 465. (deutschestextarchiv.de)

Solange die schleswig-holsteinsche Bewegung eine rein bürgerlich-friedliche, gesetzliche Philisteragitation blieb, erregte sie nur die Begeisterung wohlmeinender Kleinbürger. Als daher vor der Februar-Revolution der jetzige Dänenkönig […]bei seiner Thronbesteigung für seine Gesammtstaaten eine freisinnige Verfassung […], mit gleicher Zahl Abgeordneter für die Herzogthümer wie für Dänemark versprach, und die Herzogthümer dagegen opponirten, trat der kleinbürgerliche Lokalcharakter der schleswig-holsteinschen Bewegung unangenehm hervor.

Neue Rheinische Zeitung, 10. September 1848, Nr. 99, S. 496. (deutschestextarchiv.de)

Gesunde Luft in diesen Zimmern hier […] bringt eine wohlthätige Reaction im Blute hervor. Nichts Dummes oder Unharmonische stört das Auge – Alles ist einfach, großbürgerlich, ehrenwerth, patriarchalisch […] ich […] bin nicht im Mindesten von einer unbehaglichen Regung attakirt.

Flygarne-Carlén, Emilie: Sämmtliche Romane. In sorgfältiger Uebertragung aus dem Schwedischen. Leipzig, Stuttgart 1856, Bd. 37, S. 445. (google.de)

Die niederen Sorten des Moſelweins werden vielmehr an der Moſel und in der Rheinprovinz überhaupt auch vom Kleinbürger und Bauern in bedeutenden Quantitäten conſumirt.

Lassalle, Ferdinand: Die indirekte Steuer und die Lage der arbeitenden Klassen. Zürich 1863, S. 69. (deutschestextarchiv.de)

Für den Kleinbürger, der in der Form der Waarenproduktion das nec plus ultra menschlicher Freiheit und individueller Unabhängigkeit erblickt, wäre es natürlich sehr wünschenswerth, zugleich der mit dieser Form verbundnen Missstände überhoben zu sein, namentlich auch der nicht unmittelbaren Austauschbarkeit der Waaren.

Marx, Karl: Das Kapital. Kritik der politischen Oekonomie. Erster Band. Buch I: Der Produktionsprocess des Kapitals. Hamburg 1867, S. 31. (deutschestextarchiv.de)

Was ſie [die demokratiſchen Repräſentanten] zu Vertretern des Kleinbürgers macht, iſt, daß ſie im Kopfe nicht über die Schranken hinauskommen, worüber jener nicht im Leben hinauskommt, daß ſie daher zu denſelben Aufgaben und Löſungen theoretiſch getrieben werden, wohin jenen das materielle Intereſſe und die geſellſchaftliche Lage praktiſch treiben.

Marx, Karl: Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte. 2. Ausgabe. Hamburg 1869, S. 29. (deutschestextarchiv.de)

Wie oft hatte dieſe tapfere Frau einſt in den Tagen der Franzoſenherrſchaft ihr wirkſames Fürwort für den badiſchen Staat eingelegt; und nun ſtrich ihr dieſer Landtag, der ihr eigentlich ſein Daſein verdankte, 20,000 fl. von ihrem beſcheidenen Einkommen. Wie hätten dieſe Kleinbürger auch begreifen ſollen, daß der Hofhalt einer Fürſtin […], deren Töchter auf den Thronen von Rußland, Schweden, Baiern, Heſſen und Braunſchweig ſaßen, nicht nach den Bedürfniſſen einer Landpfarrerswirthſchaft beurtheilt werden durfte?

Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Zweiter Theil. Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig 1882, S. 513. (deutschestextarchiv.de)

Meine Herren, die Sozialdemokratie ist unvergänglich; sie ist die nothwendige Konsequenz des großbürgerlichen Wirthschaftssystems, der kapitalistischen Produktionsweise.

Verhandlungen des Reichstages. Berlin 1888. [DWDS] (digitale-sammlungen.de)

Sie lobte das Stück, weil es jene verlumpten Wiener Kleinbürger schilderte, aus denen angeblich die antisemitische Partei in Wien besteht.

Die Fackel 1900 [2002], S. 24. [DWDS]

Sie fand das ganze Anwesen grenzenlos kleinbürgerlich, so gar nicht ein bischen »Berlin«.

Duncker, Dora: Großstadt. In: Deutsche Literatur von Frauen. Berlin 2001 [1900], S. 17574. [DWDS]

Die bürgerliche Gesellschaft läßt Tausende verderben, die kraft ihrer Begabung in Kunst und Wissenschaft Vorzügliches geschaffen hätten, in der Tretmühle der Lohnknechtschaft gehen die besten Köpfe jämmerlich zugrunde. Und wie gewaltig, wie ergreifend ist der Wissensdrang der Arbeiterklasse, die […]trotz der Jämmerlichkeit der herrschenden Zustände den Kampf um das Wissen mit Begeisterung kämpft und die abgestumpften, geistig abgewirtschafteten Großbürger durch ihren Schwung und ihre Einsicht in die gesellschaftlichen Zusammenhänge tief beschämt!

Kautsky, Karl/Bruno Schönlank: Grundsätze und Forderungen der Sozialdemokratie. Erläuterungen zum Erfurter Programm. 4. Aufl. Berlin 1907, S. 45. (deutschestextarchiv.de)

Mit dem Ziel des größten Glücks der größten Anzahl, – an das ich glaubte wie Sie alle, – schaffen wir eine Gesellschaft behäbiger Kleinbürger… Und spüren Sie den Geist der Verneinung nicht in allem, was heute lebenskräftig ist und vorwärts will?

Braun, Lily: Memoiren einer Sozialistin. In: Mark Lehmstedt (Hrsg.): Deutsche Literatur von Frauen. Berlin 2001 [1911], S. 10706. [DWDS]

Ein Kleinbürger, pedantisch, Buchkenntnisse ausbreitend, verlegen, zeremoniös, mißtrauisch, und dann von einer geistigen Kühnheit, die alle Abgründe überflog.

Berliner Tageblatt (Montags-Ausgabe), 11. 3. 1918, S. 1. [DWDS]

Ich bin empfindlich gegen den Klang der kleinbürgerlichen Stimmen, gegen ihr Lachen.

Klemperer, Victor: Leben sammeln, nicht fragen wozu und warum. Tagebücher 1918–1932. Berlin 2000 [1927], S. 155. [DWDS]

War der Heizer Hornauer unschuldig, so waren die Geheimräte von Bettinger und Dingharder schuldig, angesehene, gewissenhafte Großbürger.

Feuchtwanger, Lion: Erfolg. Gesammelte Werke in Einzelbänden. Bd. 6. Berlin 1993 [1930], S. 114. [DWDS]

Im Parterre sammelt sich allmählich, was man später zu den gebildeten Ständen rechnet, ohne schon der großbürgerlichen Oberschicht zuzugehören, die in den Salons verkehrt.

Habermas, Jürgen: Strukturwandel der Öffentlichkeit. Neuwied 1965 [1962], S. 50. [DWDS]

Die großen Kamine der Landsitze und Stadtpaläste, Symbole der adligen und großbürgerlichen Behaglichkeit und Wohnkultur, bedurften zu ihrer Reinigung der chimney sweeps, der armen Kaminfegerjungen, meist Waisen- oder Findelkinder, die oft bei ihrer Arbeit im Ruß erstickten.

Wandruszka, Adam: Die europäische Staatenwelt im 18. Jahrhundert. In: Propyläen Weltgeschichte, Berlin 2000 [1964], S. 10868. [DWDS]

Es war eben sein Credo, der Lebensstil eines Großbürgers.

Der Spiegel, 24. 6. 1985, S. 18. [DWDS]

Degenhardt, […]Franz Josef, * 3. 12. 1931 Schwelm (Westfalen); dt. Jurist (Dr. jur.) und Balladensänger, trägt seine gegen die kleinbürgerliche Scheinidylle gerichteten Liedgrotesken selbst vor.

Brockhaus-Riemann-Musiklexikon. Berlin 2000 [1989], S. 2516. [DWDS]

Und die großbürgerliche Frankfurter Allgemeine Zeitung resümiert: […].

Junge Welt, 13. 10. 1989, S. 6. [DWDS]

Überredet Sofie, ebenfalls einen zu werfen, das würde ihrer Seele helfen, sich von kleinbürgerlichen Hemmungen zu befreien.

Krausser, Helmut: Eros. Köln 2006, S. 162. [DWDS]